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Heimkehr

Heimkehr

Titel: Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Bach
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in den dichten Zweigen; beherzt und zielstrebig kletterte ich nach oben.
    Was es auch sein mochte, worüber sie gerade redeten, sie sagten bestimmt nichts Nettes über mich und nichts, worüber ich mich wundern würde. Käme ich plötzlich hereinspaziert, würden sie einfach das Gespräch unterbrechen oder das Thema wechseln und über das Büro oder die Bibel oder etwas ähnliches reden.
    Je näher man der Baumspitze kam, um so kürzer wurden die Äste, hie und da konnte man über die Hausdächer hinwegsehen. Die Aussicht war dort oben am besten, aber die Äste waren dünn, und der Stamm selbst war nur noch einige Zoll dick, man konnte sich leicht hin und her schwingen.
    Ich kletterte fast bis in den Gipfel… das war keine Mutprobe, sondern ich mußte nachdenken, und hier war der einsamste Ort, den ich kannte.
    Mom fragt mich sonst immer, wie es in der Schule gewesen ist, dachte ich. Was ich heute gelernt habe. Ich hatte ihr erzählen wollen, daß ich etwas über das Wahrscheinlichkeitsgesetz gelernt habe. Ich hatte sie fragen wollen, was sie denn darüber wisse. Aber plötzlich interessiert sie das alles nicht mehr. Warum ist Dad schon zu Hause? Ist jemand gestorben? Was könnte passiert sein?
    Die einzige mir bekannte Person, die bisher gestorben war, war meine Großmutter gewesen, und sie hatten es mir damals erzählt. Ich war ihr nur ein einziges Mal begegnet, sie war streng und weißhaarig und kaum größer als ich gewesen, und ich habe ihren Tod nicht beweint. Mom hat auch nicht geweint und Dad sowieso nicht.
    Niemand war gestorben. Das hätten sie mir bestimmt erzählt.
    Die Nadeln des Baumes verdeckten den größten Teil unseres Hauses, das eine Viertelmeile entfernt war, aber ich konnte einen Teil des Daches über der Küche ausmachen. Es war nicht schwer zu erkennen. Alle Einwohner von Lakewood Village hatten ein schräges Dach, nur unseres war flach.
    Was ging dort drüben vor?
    Ein leichter Wind kam auf, und der Baum begann zu schwanken. Ich schlang einen Arm um den Baumstamm.
    Es mußte etwas mit mir zu tun haben, dachte ich. Warum sonst hatten sie mich unbedingt loswerden wollen? Es hatte etwas mit mir zu tun, und es war nichts Gutes.
    Aber das ist doch nicht möglich. Selbst der Direktor in seinem Büro hat nur gute Nachrichten für mich. Er gratuliert mir, weil ich in die Schulfeuerwehr gewählt worden bin, fragt mich, ob ich daran denken würde, mich als Lehramtsstudent zu bewerben, oder sagt mir, daß ich abgesehen von meinem Bruder bei der Prüfung besser als alle anderen abgeschnitten habe.
    In der Dämmerung saß ich wie ein verängstigter Waschbär immer noch auf dem Baum und tappte in Gedanken völlig im dunkeln: ich war besorgt, aber fest entschlossen, nichts zu fragen. Die Entscheidung, wann sie mir erzählen wollten, was eigentlich los war, überließ ich ihnen. Ich war hilflos. Ich konnte nichts machen. Es handelte sich um etwas Wichtiges, um etwas, was ich nicht wissen sollte, und damit Schluß!
    Ich rutschte den Stamm hinab und ging nach Hause, wobei ich mir die Flecken vom Harz der Kiefer in die Jeans hineinrieb.
    Als ich durch die Schwingtür in die Küche kam, war Dad fort, und Mom bereitete das Abendessen zu. Nicht nur das Abendessen — sie schob gerade auch eine Schaumtorte in den Ofen.
    »Hi, Dickie«, sagte sie. Der Glanz ihrer Augen war erloschen. »Was hast du heute in der Schule gelernt?«
    Ihre Stimmung übertrug sich sofort auf mich. »Nichts«, erwiderte ich.
    Bobby fehlte nun immer öfter in der Schule, und ab und zu fanden wieder jene Familiensitzungen statt.
    Wenn ich allein in unserem Zimmer war, das er sich mit mir teilte, hörte ich mitunter gedämpfte Stimmen durch die Wand. Meist sprach Dad und bisweilen auch Mom, manchmal aber auch Bobby, aber so selten und so leise, daß ich mir nicht sicher war, ob ich tatsächlich seine Stimme gehört hatte.
    Eines Abends, als er die Leiter zum Bett über mir hinaufkletterte, widerrief ich meinen Entschluß.
    »Was geht eigentlich vor, Bobby?« fragte ich. »Mit Mom und Dad. Worüber redet ihr? Betrifft es mich?«
    Er blickte nicht einmal über die Kante, wie er es manchmal tat, um mich anzusehen. »Es ist ein Geheimnis«, sagte er. »Es betrifft dich nicht. Es ist etwas, was du nicht zu wissen brauchst.«
     
    *
     
    Wir hatten fast immer miteinander reden können, Bobby und ich, und nun plötzlich nicht mehr. Zumindest würde man mich nachts nicht holen, um mich mit verbundenen Augen auf die Ladefläche eines Lasters zu werfen

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