Heimkehr am Morgen (German Edition)
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wer sie eigentlich ist. Jess geht es ebenso. Und so etwas möchte man nicht erst nach dem Jawort herausfinden.«
Der alte Mann hob zustimmend eine seiner arthritisgeplagten Hände. »Junge, Junge, sie hat uns ja ganz schön verschaukelt.«
»Allerdings. Möchtest du so eine Schwiegertochter?«
Seufzend rieb Pop sich sein weißes, kurzgeschnittenes Haar. Er antwortete nicht sofort. Auf Cole wirkte er gealtert, als wäre sein innerer Funke, diese kleine Flamme, die ihn reizbar und streitlustig machte, erloschen. »Manchmal glaube ich, ich lebe schon zu lang«, meinte er schließlich. »Alles steht auf dem Kopf. Ich weiß nicht, worauf ich mich noch verlassen kann.« Mit langsamen, steifen Bewegungen zog er eine kleine Flasche aus seiner Gesäßtasche und gab ein wenig Whiskey in seinen Becher. »Als eure Ma starb, habe ich mich durchgeboxt, ich hatte ja zwei Jungs großzuziehen und wusste, dass sie von mir erwarten würde, ich sollte es ordentlich machen.« Er sah zu Cole auf. »Ich weiß immer noch nicht, ob es mir gelungen ist.«
Cole spielte mit seinem Löffel herum, überrascht durch die Offenheit seines Vaters. Sofort ging er in die Defensive. »Warum, weil ich nicht so war, die du es erwartet hast?«
Pop starrte ihn an. »Habe ich das gesagt?«
»Manchmal, auf vielerlei Art.«
»Wie denn?«, wollte er wissen. »Wie habe ich es gesagt?«
Cole war nicht in der Stimmung, alte Streitereien und Unterstellungen wiederaufzuwärmen. »Das ist jetzt unwichtig. Belassen wir es einfach dabei, dass ich oft das Gefühl hatte, ich hätte dich irgendwie enttäuscht.« Der Kummer und die Wut über Rileys Verlust brachten ihn dazu, mehr zu sagen, als er es sonst getan hätte. »Dass ich nicht so geworden bin, wie du es gern gehabt hättest.«
»Weil ich wollte, dass du mit Riley in den Krieg ziehst?«, bohrte Pop nach. Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch und beugte sich ein bisschen vor. »Dann lass dir mal was sagen. Damals dachte ich, es wäre das Richtige. Aber jetzt …«
»Jetzt?
Cole wartete, er wusste nicht genau, worauf. Zustimmung, Lob, irgendeinen kritikfreien Kommentar. Aber es kam nichts.
Sein Vater machte nur eine Geste mit der Hand und hievte sich laut ächzend vom Stuhl hoch. »Ich gehe jetzt ins Bett.«
Cole sah ihm nach, wie er hinausschlurfte. Seufzend starrte er auf die regennassen Fenster und die Schwärze dahinter.
Am nächsten Morgen kehrte Amy in aller Frühe zu Mrs. Donaldson zurück, um sich dort vollständig zu erholen. Damit würde das Krankenhaus auch eine Pflegerin verlieren, was Jessica jedoch verschmerzen konnte. Mrs. Donaldson war doch oft sehr emotional.
Jessica blieb bewusst so lang in der Praxis und erledigte Papierkram, bis sie davon ausgehen konnte, dass ihre Schwester fort war. Ihre öffentliche Szene war hässlich gewesen und, was noch schlimmer war, Jess spürte die feine Trennlinie zwischen Unterstützern und Gegnern unter Patienten und Krankenschwestern. Manche hielten zu Jessica, andere zu Amy. Jess war es egal, wer auf ihrer Seite stand, ihr war einfach die ganze Situation peinlich. Hätte Coledoch nur einen günstigeren Augenblick abgewartet, um die Katze aus dem Sack zu lassen.
Während sie an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer saß, ertappte sie sich dabei, wie sie auf Anzeichen von Aktivität in der Schmiede nebenan wartete. Der Klang des Hammers, der auf Metall schlug, der Geruch der Esse, das Wiehern von Pferden. Aber da war nichts.
Als sie am Nachmittag im Krankenhaus besorgt die feuchte Lunge von Jeremy Easton abhorchte, für den sie kaum noch Hoffnung hatte, hörte sie draußen Tumult. Sie blendete den Lärm aus und versuchte sich auf ihren Patienten zu konzentrieren. Die Hand auf seiner Stirn, spürte sie das Fieber in ihm brennen. Bitte, dachte sie, nicht auch noch Jeremy.
»Ach du heiliges Kanonenrohr!«, platzte Granny Mae am anderen Ende des großen Raums heraus.
Jessica blickte auf und sah Granny und Iris Delaney am Fenster. »Was ist denn da draußen los?«
»Ich kann es nicht sagen. Aber Adam Jacobsen hat ein Grüppchen Leute dabei, und sie kommen hierher.«
Eine kalte Hand des Grauens legte sich um Jessicas Herz. Adam war seit jenem Morgen, als er auf sie und Cole losgegangen war und wie ein Racheengel mit dem Finger auf sie gezeigt hatte, nicht mehr im Krankenhaus gesehen worden. Sie trat ans Fenster neben Granny Mae und zog ihren Mundschutz herunter, entsetzt über das Geschehen draußen.
Adam
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