Heimkehr am Morgen (German Edition)
nach Jessicas Erfahrung die Entscheidung brachte, ob jemand leben oder sterben würde. In diesen Stunden lag der Rest der Welt in tiefem Schlummer oder weinte im Dunkeln vor Einsamkeit, Verzweiflung oder Schmerz.
Helen Cookson war vor einer Stunde ins Hotel zurückgekehrt. Als Jess nun Eddie untersuchte, wuchs ihre Besorgnis. Luft, die eigentlich seine Lunge füllen sollte, schien in das Gewebe seines versagenden Körpers zu entweichen und blähte ihn auf wie einen Ballon. Jede seiner Bewegungen erzeugte ein knisterndes Geräusch wie zerknülltes Zellophan. Was um alles in der Welt ist das für eine Grippe?, fragte sie sich verzweifelt. Sein Atem ging immer mühsamer, und die Zyanose – die bläuliche Färbung seiner Haut – war dunkler und ausgeprägter geworden. Im gedämpften Licht der Nachttischlampe sah er noch geisterhafter aus.
Aber da war noch etwas anderes. Etwas Neues. Der Geruch. Dies war nicht die Ausdünstung eines ungewaschenen Körpers. So etwas kannte sie zur Genüge. Und es war nicht nur der Geruch eines Kranken. Dies war der Gestank von Fäulnis.
Jessica sank das Herz.
Sie zog ihm die Decke über der Brust zurecht, und da öffnete er die fieberglänzenden Augen.
»Ich werde sterben«, flüsterte er mit kratzender Stimme. Zum ersten Mal, seit er vor achtundvierzig Stunden in der Praxis zusammengebrochen war, wirkte er beinahe klar. Jess ergriff seine heiße Hand auf der Bettdecke. »Glaubst du das wirklich?«
Sein Nicken war kaum wahrnehmbar. Jess wusste, dass er recht hatte. Schon einige Male zuvor hatte sie Schwerkranke erlebt, die spürten, wie das Leben aus ihnen wich und dass ihre Zeit gekommen war.
»Ich hole deine Mutter …«
»Nein«, ächzte er, um jeden Atemzug und jedes Wort ringend, und packte ihre Hand fester. »Bleiben Sie … bei mir. Ich … möchte nicht … mit ihm allein sein.«
»Mit ihm?«
»Er will mich … holen. Schauen Sie doch!«
Jess spürte, wie sich ihr die Haare im Nacken aufstellten, während sie sich im Zimmer umsah. »Nein.«
Schwerfällig hob er den Arm ein paar Zentimeter. »Dort … am Fußende … sitzt er … und wartet darauf …, dass ich sterbe.«
Wieder schaute sie in die angegebene Richtung, obwohl ihr klar war, dass es nichts zu entdecken gab. Sie sollte schleunigst seine Mutter holen – das Hotel war nur ein paar Querstraßen entfernt. Aber sie wollte Eddie nicht verlassen. Sie würde es sich nie vergeben, wenn er allein sterben müsste.
Ihr fiel der Fernsprechapparat im Erdgeschoss ein. Auch das Hotel besaß einen. Ohne Vermittlung jedoch war es ein Gerät ohne Nutzen, wie eine stehen gebliebene Uhr, für die der Schlüssel zum Aufziehen fehlte.
Sanft befreite sie ihre Hand und trat ans Fenster, in der Hoffnung, dort unten irgendjemanden zu entdecken, der ihr helfen könnte. Sie musste an den Abend vor zwei Tagen denken, als sie jemanden gesucht hatte, der Eddie heimbrachte. Selbst um halb sieben war keine Menschenseele mehr unterwegs gewesen,und jetzt, um Mitternacht, war sogar Tilly’s kurz vor dem Schließen.
Plötzlich fühlte sie sich hilflos und völlig allein. Sie schob das Fenster auf, streckte den Kopf hinaus und spähte hinunter auf die dunkle Straße. Menschenleer. Nur ein scharfer nächtlicher Wind, der nach Regen roch. Die ersten Tropfen schlugen ihr bereits ins Gesicht. Die frische Luft war eine Erleichterung, löste aber ihr Problem nicht. Doch dann, gerade, als sie das Fenster wieder zuschieben wollte, bemerkte sie eine Bewegung auf dem Gehweg unter ihr. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit und wartete darauf, dass die Gestalt in das Rechteck aus Licht trat, das aus ihrem Fenster fiel.
Cole Braddock. Sie hätte sich zwar gewünscht, es möge jemand anderes sein, aber sie war dankbar, überhaupt jemanden zu sehen. Und sie wusste, er würde ihr helfen.
»Cole!«
Er sah auf, die Augen von der Krempe seines Stetson beschattet. »Jessica? Was ist los?«
»Bitte, könntest du zum Hotel gehen und Mrs. Cookson holen? Es handelt sich um einen Notfall! Ich kann Eddie nicht allein lassen.«
Mit einem kurzen Nicken eilte er davon. Sie sah seiner schlanken, langbeinigen Gestalt nach, die mit der Dunkelheit verschmolz. Flüchtig fragte sie sich, warum er zu dieser Zeit in der Stadt unterwegs war. Dann trat sie wieder ans Bett und nahm Eddies Hand.
»Deine Mutter wird in einer Minute da sein.« Aber er war in das Schattenreich zwischen Leben und Tod zurückgesunken, und sie bezweifelte, dass er noch
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