Heimkehr am Morgen (German Edition)
düstere, stinkende Löcher voller menschlichem Elend.«
Er hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen, biss jedoch so fest die Zähne zusammen, dass er einen Muskel zucken fühlte.
»Wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, es nicht selbst erlebt hat, kann man es nicht verstehen.« Das Taschentuch in ihrem Schoß hatte sie zu einem festen Knoten zusammengeballt. »Selbst den Hunden auf deiner Ranch geht es besser als diesen Menschen. Darum bin ich geblieben. Wie hätte ich sie einfach ihrem Schicksal überlassen können?«
»Aber irgendwann bist du gegangen«, brachte er endlich heraus. Seine Stimme klang gepresst. »Warum?«
Jess wandte den Kopf zu dem Strauß Chrysanthemen, der auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen stand. Sie gab keine Antwort. In der Stille, die sich ausbreitete, hörten sie nur das sanfte Prasseln der Regentropfen, in das sich plötzlich ein gedämpftes Schluchzen mischte, das von oben kam.
»Oh … mein Gott …«
Cole sah auf und horchte. »Es ist vorbei.«
Jessica nickte und stand auf. »Ich behalte ihn bis morgen hier. Bis dahin hat Fred Hustad wieder geöffnet, und die Cooksons können Vorbereitungen für das Begräbnis treffen. Er führt doch immer noch sein Bestattungsunternehmen vom Hinterzimmer seines Möbelgeschäfts aus?«
»Ja. Kann ich irgendetwas für dich tun?« Wenn möglich, wollte er ihr gern helfen, wollte er wenigstens
etwas
tun.
Für Jessica klang es wie eine Fangfrage. Sie hätte ihn um ein Dutzend Dinge bitten können, aber das stand ihr nicht mehr zu.
Ja, oh ja, bitte halt mich, tröste mich, lass mich diese Albträume vergessen, hilf mir, mich wieder lebendig zu fühlen, bring mich zum Lachen, wie früher.
Sie merkte, dass sie sich unwillkürlich zu ihm hinneigte, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern, und den Blick zu seinem Mund wandern ließ. Auch er beugte sich wie von unsichtbarer Hand gelenkt näher zu ihr. Sein Gesicht füllte ihr Blickfeldganz aus, die gerade Nase, die Lippen, nicht zu schmal und nicht zu voll, das kantige Kinn und seine Augen mit den langen Wimpern, um die sie ihn immer beneidet hatte. Er roch nach Leder …
Wieder zerriss ein Schluchzen die Stille, und der Bann war gebrochen, der gefährliche Moment vorbei. Jess zog sich zurück.
»Nein«, log sie, »ich brauche nichts«.
Als Adam Jacobsen Eddie am nächsten Tag zur letzten Ruhe bettete, bestand die Trauergemeinde nur aus seinen Eltern. Jessica wollte eigentlich teilnehmen, aber sie musste sich um andere Grippepatienten kümmern, und alle, die noch gesund waren, verließen ihre Häuser nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Kaum hatte Jessica das Krankenbett frisch bezogen, als auch schon ein neuer Patient es benötigte, ein sechsjähriger Junge. Seine Mutter belegte das zweite Bett.
Mit Amys Hilfe spannte sie ein Laken zwischen den Betten auf, in der Hoffnung, den Austausch von Krankheitserregern zu unterbinden. Anna Warnecke weinte jedoch so jämmerlich, weil sie ihren Sohn Philip nicht sehen konnte, dass sie es wieder abnahmen. Wahrscheinlich würde es sowieso keinen Unterschied mehr machen.
In dieser Nacht wachte sie bei den beiden und hielt ab und an ein kurzes Nickerchen. Obwohl Philip sehr krank war, schien es ihm besser zu gehen als seiner Mutter, deren Kräfte sichtlich nachließen. Das verwirrte Jessica. Normalerweise raffte Grippe die sehr Jungen oder die Alten dahin, nicht Menschen in der Blüte ihres Lebens.
Anna war noch nicht einmal dreißig.
Eddie war erst achtzehn gewesen.
Tags darauf saßen Amy und Jess um die Mittagszeit an dem kleinen Küchentisch in der Arztwohnung, um kurz einen Kaffee zu trinken und ein Sandwich zu essen.
»Hier«, sagte Jess und schob Amy einen mit Sahne gefüllten Krug hin.
»Wo hast du die bloß herbekommen?«, fragte Amy beim Anblick der Sahne entzückt und goss einen kräftigen Schuss von diesem verbotenen Luxus in ihre Tasse, genug, um dem Kaffee einen hellen Braunton zu verleihen.
»Von Horace Cookson. Er hat mir versprochen, jeden Tag Sahne und ein bisschen Butter von seiner Milchfarm zu bringen. Als Dank dafür, dass ich mich um Eddie gekümmert habe. Aber nach dem, was passiert ist, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich es auch verdient habe.«
»Nimm’s trotzdem an«, meinte Amy, die mit einem Ausdruck vollkommener Glückseligkeit an ihrem Kaffee nippte. »Du hast getan, was du konntest, und es ist ja nicht viel mehr als eine Geste. Wahrscheinlich geht es ihm dadurch besser.«
Unten öffnete sich die
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