Heimkehr am Morgen (German Edition)
und ihren Groll unter Verschluss zu halten. Schließlich war Amy ihre Schwester, alles, was ihr noch an Familie geblieben war. Blut war dicker als Wasser, und die Sache mit Cole und ihr war eben einfach schiefgegangen. Sie hatte sich an jede Entschuldigung, jede noch so abgedroschene Binsenwahrheit geklammert, um die Tage zu überstehen.
Aber die ungeschminkte Wahrheit lautete, dass Amy, ob Schwester oder nicht, vorhatte, den Mann zu heiraten, den Jess sich selbst einmal zum Ehemann erkoren hatte. Den Mann, der ihr geschrieben hatte, er würde nicht mehr länger auf sie warten. Und es mochte vielleicht nur Einbildung sein, aber Amy wirkte nahezu unerträglich selbstzufrieden und schien über die Wendung der Ereignisse zu triumphieren.
Entschlossen verbannte sie ihre Bitterkeit in einen dunklen Winkel ihres Herzens und brach das Schweigen. »Ich bin sicher, das Verbot öffentlicher Veranstaltungen wird nicht lang dauern. Nur bis wir wissen, ob es in Powell Springs zur Epidemie kommt. Die Lage im Land ist nämlich ziemlich ernst.«
Amy, die sich wieder gefasst hatte, entgegnete steif: »Dann werde ich nicht nur darum beten, dass es Eddie bald besser geht, sondern auch, dass er der einzige schwere Grippefall bleibt.«
Spät am nächsten Nachmittag hatte Jessica gerade eine weitere Bestellung für Grippetabletten an den Apotheker geschickt, als sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Voller Sorge, was wohl als Nächstes kommen mochte, eilte sie in das Wartezimmer, wo sie zu ihrer Überraschung Adam Jacobsen mit einem Strauß rosa-farbener und gelber Chrysanthemen vorfand.
»Adam! Du kommst sicher, um Eddie zu besuchen.« Das nahm sie zumindest an, da er wie immer seinen Anzug trug und nicht krank wirkte.
Er lächelte sie an. »Ja, aber nicht nur.«
»Und du hast ihm Blumen mitgebracht. Wie aufmerksam von dir.«
Er trat näher und reichte ihr die Chrysanthemen. Trotz der Gerüche nach Medizin und Krankheit kam ihr ein schwacher Hauch Haarwasser in die Nase. Er sah ihr tief in die Augen. »Der Strauß ist für dich, Jessica.«
Obwohl die Blüten keinen Duft verströmten, brachte das feuchte Grün einen frischen Geruch herein. Jessica war sprachlos. »Für mich – ich …«, stammelte sie.
Verlegen sah er zu Boden. »Sie wachsen in meinem Garten, und irgendwie haben sie mich an dich erinnert. Golden und ein zartes Rosa.«
Wie aufs Stichwort spürte Jessica, dass ihr die Hitze in die Wangen schoss. Seit Jahren war sie nicht mehr rot geworden. Die Situation war ihr unangenehm, aber in gewisser Weise war diese Geste auch Balsam für ihre Seele. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ihr jemand das letzte Mal Blumen geschenkt hatte, und nun bekam sie ausgerechnet welche von Adam. Sie wusste kaum, wie sie darauf reagieren sollte. »Das ist sehr nett von dir. Danke, Adam.«
»Ich wollte mich noch einmal bei dir dafür bedanken, dass du dich entschieden hast, eine Weile zu bleiben und dich um die Menschen hier zu kümmern.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Und natürlich wollte ich Eddie besuchen.«
»Das solltest du vielleicht lieber nicht. Du könntest dich anstecken.«
»Dich hat es schließlich auch nicht davon abgehalten, ihn zu pflegen.«
»Aber ich bin seine Ärztin.«
»Und zwar eine besonders selbstlose.«
Sie lachte, da sie es für einen Scherz hielt. Solch ein Attribut würde eher zu Amy passen. Amy, die große Wohltäterin. »Aber nein, wirklich nicht …«, begann sie. Doch dann sah sie an seinem Gesicht, dass er es ernst meinte.
Er ging über ihren Einwand hinweg. »Genau wie deine Berufung verlangt es auch die meine, mit schwierigen Situationen fertigzu werden. Ich bin sicher, Eddie könnte ein wenig geistlichen Beistand gebrauchen. Wie ich höre, geht es ihm ziemlich schlecht.«
Ihr Lächeln erlosch. »Das stimmt. Aber vielleicht merkt er nicht einmal, dass du da bist. Er fantasiert die meiste Zeit.«
»Das spielt keine Rolle. Gott ist bei ihm. Eddie ist nicht allein in seiner Not. Daran möchte ich ihn einfach erinnern.«
Darauf wusste Jess nichts mehr zu erwidern. Wenn Adam so fest entschlossen war, ihren Patienten zu besuchen, würde sie ihn nicht daran hindern. Sie deutete zur Treppe. »Er ist oben. Seine Mutter sitzt bei ihm.«
Er nickte und eilte die Stufen hinauf.
Jess suchte eine Vase für die Chrysanthemen. Womöglich würde sie ihre vorgefasste Meinung über Adam Jacobsen revidieren müssen.
Mitternacht. Eine Zeit der Einsamkeit, die
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