Heimkehr am Morgen (German Edition)
standen am Sonntagmorgen nach der Kirche bei ihr vor der Tür.
Sie bekam es mit allen möglichen Leiden zu tun, hauptsächlich Bagatellen. Das war auch gut so, denn sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich richtig in der Praxis umzusehen, und benutzte im Grunde nur ihre Arzttasche für die Arbeit. Außerdem hatte Horace Cookson so verzweifelt nach einem Arzt für Powell Springsgesucht, dass er zu ihrem Glück das Stellenangebot mit einem Telefonanschluss im Arbeitszimmer, einer anständigen Ausstattung und einigen Materialien und Medikamenten versüßt hatte. Manches stammte noch von ihrem Vater, wie ihr auffiel. Neben der Beobachtung von Eddie Cookson, dessen Mutter bestens in der Lage schien, ihm die nötige Pflege zukommen zu lassen, verband Jessica einen verstauchten Knöchel, schnitt eine Eiterbeule auf und stellte eine Schwangerschaft fest, alles bis um zwei Uhr mittags.
Es war fast zehn Uhr abends, als sie im Nachthemd im Zimmer stand und die milde, saubere Luft einatmete. Abgesehen von Eddies heiseren Hustenanfällen war die Nacht ruhig und duftete frisch, ein leichtes Lüftchen bauschte die Spitzengardinen und brachte von draußen den Geruch vom letzten Heu, das auf den Wiesen vor der Stadt gemäht worden war. In Powell Springs war es viel ruhiger als in New York. Es gab keine Straßengeräusche, keinen Lärm von scheppernden Feuerwehrautos und Lastwagen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeifuhren.
Nachdem sie ihrem Haar die obligatorischen hundert Bürstenstriche gegönnt hatte, lockten sie die sanft gebauschten Gardinen zum Sessel am Fenster. Sie schaltete die Deckenleuchte aus, sodass nur noch der Mond Schatten auf den Boden warf. Während sie ihr Haar flocht, blickte sie auf die ruhige Hauptstraße. Die Schaufensterscheiben waren dunkel, und wenn sie angestrengt genug lauschte, trug der Wind, wenn er sich drehte, von Zeit zu Zeit das sanfte Plätschern des Powell Creek zu ihr hin. Sie stellte die Ellbogen auf die Fensterbank, legte das Kinn in die Hände und holte tief Luft, um die Frische zu riechen.
Es war Nacht in einer Kleinstadt. Ihrer Stadt.
Die idyllische Stimmung rührte ihr Herz an, es war noch friedlicher, als sie es sich in Augenblicken des Heimwehs vorgestellt hatte. Die Wohnung war wirklich hübsch, dachte sie, als sie den Blick über die schwach beleuchteten Umrisse wandern ließ. Auf alle Fälle hübscher, als sie erwartet hatte. Dr. Pearson würde sich hier sehr wohlfühlen. So wie sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts.
Sie hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich, und die Müdigkeit steckte ihr in den Gliedern. Aber es war wenigstens nicht das völlig ausgepumpte Gefühl wie früher. In New York hatte es Nächte gegeben, da hatte sie sich kaum die Treppe zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinaufschleppen können.
Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie stundenlang wachgelegen, wenn ihr der Kummer in der Welt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, und sich geschworen, am nächsten Tag noch härter zu arbeiten, um ihn zu lindern. Aber was sie auch tat, der Kummer in der Welt wurde nicht weniger.
Gähnend durchquerte sie den Raum und kletterte in ihr bequemes, einladendes Bett. Der Schlaf kam und schloss sie in seine weichen Arme.
Hier in Powell Springs war sie die Einzige, deren Herz Kummer litt.
Kapitel 10
Wie Cole prophezeit hatte, dauerte es nicht lang, und die Neuigkeit von Eddie Cooksons Grippeerkrankung hatte in Powell Springs die Runde gemacht. Bis Dienstagnachmittag hatten viele Menschen Blumen und Genesungskarten für ihn auf Jessicas vorderer Veranda und im Wartezimmer hinterlassen.
Dann begannen weitere Patienten einzutrudeln, die über plötzliche Halsschmerzen, Fieber, Husten und Kopfschmerzen klagten. Keiner von ihnen war so krank, das Jessica ihn aufnehmen musste, aber sie befürchtete, dass dies nur noch eine Frage der Zeit sein würde. Fast immer lautete ihre Anweisung strenge Bettruhe. Sie bestellte zusätzliche Grippetabletten beim Apotheker und empfahl, bei Atembeschwerden die Brust mit Vicks VapoRub einzureiben.
Auf Jessicas Telegramme nach Seattle und Portland trafen hilfreiche, aber auch zugleich besorgniserregende Antworten ein.
Das Rote Kreuz riet jedem Einwohner dringend zum Tragen eines Mundschutzes, um die Ansteckungsgefahr durch Husten oder Niesen zu verringern. Die Masken würden aus feinmaschiger Gaze von Freiwilligen angefertigt und könnten für zehn Cent das Stück erworben werden. Jessica bat Bürgermeister Cookson, die notwendigen
Weitere Kostenlose Bücher