Heimkehr am Morgen (German Edition)
murmelte sie und fasste nach dem Grabstein wie nach einer rettenden Schulter. »Daddy, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich diesen Menschen helfen soll. Sie gehen elend zugrunde, einerlei, was ich tue.« Einige Augenblicke redete sie so mit ihm, berichtete, was sie gegen die Epidemie versuchte. Dann erzählte sie ihm leise, mit stockenden Worten, was sie im Herzen bewegte. Sie legte die Stirn auf dieHand, die auf dem Stein ruhte, und während sie flüsternd, fast wie im Gebet redete, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
»Ich hasse Cole dafür, dass er mich verlassen hat. Aber Gott stehe mir bei, ich empfinde immer noch etwas für ihn.« Aha. In diesem Punkt hatte Amy also recht gehabt. Jess hatte es zugegeben, wenn auch nur vor einem stummen Grab. Doch ebenso wenig, wie dieses ihr Geheimnis verriet, gab es ihr den Rat, den sie so verzweifelt suchte.
»Jessica!«
Hastig trocknete sie sich mit dem Ärmel die Tränen und blickte auf. Ausgerechnet Cole kam mit schnellen, langen Schritten auf sie zu. Sie runzelte die Stirn. Merkte er denn nicht, dass er sie in einem privaten Augenblick störte? So viele Fehler er auch hatte, so unsensibel war er sonst nicht. Als er näherkam, sah sie allerdings, dass sein Gesicht aschfahl war.
Er blieb auf der anderen Seite des Grabsteins stehen. »Es geht um Amy. Ich habe sie mit dem Lastwagen hergebracht. Sie hat es auch, Jess, sie hat die Influenza.«
Kapitel 14
Cole lief am vorderen Ende der Turnhalle auf und ab, während Jessica und ein paar andere besorgte, geschäftige Krankenschwestern Amy in ein kürzlich freigewordenes Bett packten. Obwohl die Wände und die hohe Decke von dem heiseren, pfeifenden Husten der Kranken widerhallten, die hinter dem mit einem Vorhang abgetrennten Bereich schmachteten, klang Amys Husten in Coles Ohren besonders laut und schlimm.
Er war seit dem Morgen, als er Jessica dabei geholfen hatte, sich hier einzurichten, nicht mehr in der Turnhalle gewesen. Jetzt voll belegt mit Kranken und Sterbenden erschien ihm der Raum wie ein Albtraum. Mein Gott, allein der Geruch nach Krankheit, Desinfektionsmittel, Kampfer und Eukalyptus konnte einen wieder hinaustreiben. Das Halstuch, das er sich vor Mund und Nase gebunden hatte, diente mehr dazu, die Gerüche abzuschwächen, als ihn vor Ansteckung zu schützen. Und unter all dem Gehuste erlauschte er auch dieses schreckliche Geräusch, das er an dem Morgen gehört hatte, als Eddie Cookson starb, ein eigentümliches Knistern. Manche Patienten machten es, wenn sie sich bewegten. Bevor sie selbst krank geworden war, hatte Amy ihm erklärt, dass es von Gasblasen unter der Haut der Patienten verursacht wurde.
»›… erquicket meine Seele …‹«
Adam Jacobsens Stimme drang zu ihm wie ein entferntes Geräusch, das der Wind zu ihm trug.
»›… im finstern Tal …‹«
Bei diesen Worten zuckte Cole zusammen.
»›… Du hast mich hinunter in die Grube gelegt … Dein Grimm drückt mich nieder …‹«
Verflucht, warum forderte Jacobsen den Tod nicht gleich auf, vorbeizukommen und sich sein nächstes Opfer zu holen?, fragte sich Cole, angewidert durch die Wahl der Psalmen. Er rieb sich die angespannten Nackenmuskeln. Wenn man nicht bereits tot war, dann konnten einen Jacobsens Gebete dazu bringen, freiwillig den Löffel abzugeben.
Das Gefühl der Hilflosigkeit quälte Cole. Es war nicht seine Art, einfach nur zuzuschauen, wenn es Probleme gab. Er hatte immer die Initiative ergriffen, entschlossen,
irgendetwas
zu tun, selbst wenn es sich dann als falsch herausstellen sollte. Während er von seinem entfernten Platz aus darauf wartete, dass Jessica aus Amys Abteil auftauchte, wurde seine Entschlossenheit, einen kühlen Kopf zu bewahren, von Schuld und Reue untergraben.
Amy würde wieder gesund werden. Sie musste. Und falls nicht …
Nein, sie würde wieder gesund werden. Und … was dann?
Jessica starrte auf Amys nahezu leblose Gestalt, die so mitgenommen und entstellt wirkte wie eine Blume, die unter ein Wagenrad geraten war. In diesem schrecklichen Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien, war all ihre Ausbildung, ihr Fachwissen vergessen, und sie war so schockiert und entsetzt wie jeder andere, dessen Angehöriger an der Schwelle des Todes steht.
Und schlimmer noch, all ihre Ausbildung kam ihr nutzlos vor, denn sie wusste nicht, wie sie ihre Schwester retten konnte. Das artigekleine Mädchen von früher, das sich vom Wesen her so von ihr unterschied, lag jetzt
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