Heimkehr am Morgen (German Edition)
Feldbetten, auf denen sich Kranke herumwälzten und fantasierten. In den vergangenen drei Nächten hatte sie ungefähr fünf Stunden geschlafen, und das nicht einmal am Stück. »Ich bin draußen, Mae«, sagte sie leise.
Die alte Frau nickte, während sie Helen Cooksons Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte. Horace hatte seine Frau mit dem Fuhrwerk gebracht, nachdem sie zu Hause zusammengebrochen war. Mae hatte ihre Pflege übernehmen wollen. Jess hatte nichts dagegen. Sie musste sich um genügend eigene Patienten kümmern. Jedenfalls hatte sich Maes Feindseligkeit ein wenig gelegt, als sie mit eigenen Augen die verheerenden Auswirkungen der Influenza auf den menschlichen Körper gesehen hatte – die gerissenen Trommelfelle, die gebrochenen Rippen, das Bluten, die indigoblaue Verfärbung.
Immer noch in ihrer fleckigen Schürze trat Jess durch die Hintertür der Schule und massierte sich die verhärteten Nackenmuskeln. Sie zog ihren Mundschutz herunter und inhalierte tief die saubere, frische Luft, um den Krankengeruch aus Nase und Lungen zu bekommen. Im Lauf des Tages hatte es aufgehört zu regnen, und jetzt war der Himmel von einem klaren, gläsernen Blau, wie es nur der Herbst hervorbringt. Im Gras zu ihrer Linken standen Kessel, in denen Wäsche ausgekocht wurde, schmutzige Laken und Schlafanzüge. Zu ihrer Rechten wurde in einer verzinkten Wanne der Inhalt der Nachttöpfe verbrannt, der mithilfe von Kerosin in Brand gesetzt wurde.
Doch die Welt ging ihren gewohnten Gang, die Sonne zog ihre Bahn am Himmel, und die Erde richtete sich auf die Ruhe des Winters ein, vollkommen unberührt vom Treiben der Menschen, die darauf lebten und starben.
Dem Mond war es egal, dass sich Männer in den Schützengräben Frankreichs bekriegten.
Die Sterne, die in wenigen Stunden am Himmel erscheinen würden, interessierten sich nicht für die Menschen, deren Leben unten am Boden wie Kerzenflammen ausgelöscht wurden von einem Organismus, der unter keinem Mikroskop sichtbar war.
Als sie dort stand, wünschte sie, sie wäre vorn hinausgegangen. Von dieser Stelle aus fiel der Blick nämlich zum alten Friedhof, der schon vor dem Bau der Schule hier gewesen war. Friedhof und Schule trennten nur ein Baseballfeld und der niedrige schmiedeeiserne Zaun, der jenen Ort umschloss, wo so viele jetzt zur letzten Ruhe gebettet wurden. Alle Familienmitglieder, die sie verloren hatte, ruhten dort unter dem Rasen – ihre Großeltern, ihre Mutter, ihr Vater, der ihr Fels in der Brandung und ihre Inspiration gewesen war. Ihr war überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr Amy sie dafür gehasst hatte …
Wie von unsichtbarer Hand gezogen trat Jess von der hinteren Veranda hinunter aufs Gras und lief zum Friedhof. In einem entfernten, weniger dicht belegten Areal erkannte sie Winks Lamont und diesen schrecklichen Bauer, die neben einer hohen Weide Erdhügel aufschaufelten. Während sie in den Gräbern standen, diesie aushoben, waren nur ihre Oberkörper zu sehen. Neben ihnen warteten bereits drei Särge auf sie.
Aufgrund der Umstände waren die sonst üblichen Begräbnisse mit Trauergästen und einer feierlichen Zeremonie zu einer Fließbandangelegenheit geworden. Jene Familien, denen daran lag, dass am Grab ihrer Lieben ein paar Worte gesprochen wurden, konnten oft nicht daran teilnehmen, weil sie selbst krank waren. Damit sich die Särge nicht stapelten wie in anderen Städten, mussten die Toten so schnell wie möglich unter die Erde gebracht werden. Also begrub man sie, notierte, wo sie lagen, und verschob die offizielle Totenfeier auf irgendwann später.
Jess wandte den Blick ab und begab sich zu einem Granitstein, der neuer als die meisten hier war. Erst zwei Jahre alt.
Dr. Benjamin Andrew Layton
Geboren am 3. Juli 1860
Gestorben am 15. Januar 1916
Neben seinem lag das Grab ihrer Mutter. Zwar vermisste Jessica ihre Mutter mit ihrem trockenen Humor und ihrem liebevollen Pragmatismus, doch der Tod ihres Vaters hatte sie weitaus mehr getroffen. Ein lebhafter Wind wehte Laub über die Gräber, und sie wünschte mehr denn je, mit ihm sprechen zu können. Was würde er angesichts dieser Katastrophe tun? Gab es irgendeine Behandlung, ein Heilmittel, das sie bisher übersehen hatte? Mit der Verantwortung, die auf ihr lastete, und niemandem, an den sie sich Rat suchend wenden konnte, fühlte sie sich so allein wie noch nie in ihrem Leben.
Die Beine vor Müdigkeit zitternd, sank sie neben dem Grab ihres Vaters auf die Knie. »Daddy«,
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