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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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bekommen, was es verdient hat«, sagte Hans. »Die Schuldigen und die, die weggeschaut haben. Sie sind alle schon jetzt bedient worden. Wir brauchen den Krieg gar nicht mehr zu verlieren.«
    Fanny schaute ihn an. »Das finde ich auch«, antwortete sie.
    Sie war seit vier Wochen dreizehn Jahre alt. Andere Mädchen in ihrem Alter gingen zur Schule. Sie hatten Mütter, die ihnen erzählten, Deutschland würde den Krieg gewinnen, wenn sie abends brav ihre Gebete sagten und Pulswärmer für die Soldaten im Osten strickten. Mädchen in Fannys Alter hatten Großeltern, die nicht im Nebel verschwunden waren. Sie träumten von einem grünen Lodenrock und einem Berchtesgadener Jäckchen, und trotz der Bomben waren sie sicher, dass Gott mit Deutschland war. Wenn sie Zara Leander »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n« singen hörten, bekamen sie feuchte Augen. Dreizehnjährige gingen ins Kino und kicherten, wenn zwei sich küssten. Sie sagten »Heil Hitler« und hoben den Arm, wenn sie morgens in die Schule kamen, doch ihr Herzensmann war Willi Forst, der auf der Schallplatte den Schlager »Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami« sang.
    Das Mädchen Fanny aber, das vor der Frankfurter Großmarkthalle seine Mutter aus dem Leben hatte gehen sehen und das sich weder an den Vater noch an den Bruder erinnerte, wusste nichts von der Musik, die junge Mädchen entzückte. Sie durfte nie ins Kino gehen. Die einzige Familie, die ihr geblieben war, hatte Angst, das Kind könnte in eine Kontrolle geraten und ihnen entrissen werden. Fanny war zufrieden, wenn Anna ihr aus einer Decke einen Mantel nähte und aus Stoffresten eine Bluse. Sie träumte nicht von Trachtenjäckchen mit silbernen Knöpfen, sie rechnete nicht damit, dass ein junger Mann für sie je »Ich küsse Ihre Hand, Madame« singen würde. Jedoch wusste sie, dass ein Stern aus gelbem Stoff den Tod bedeutete und dass ein Konzentrationslager die Hölle des zwanzigsten Jahrhunderts war. Deshalb wusste sie auch, was Hans meinte, wenn er von deutscher Schuld sprach.
    Sie standen vor einer zerbombten Schule am Zoo. Bleiche Kinder in zu kurz gewordenen Mänteln und mit Schulranzen auf dem Rücken liefen dennoch auf das Gebäude zu. Den Kleinen folgten ältere, ernst dreinblickende Mädchen mit adrett geflochtenen Zöpfen. Offenbar fand der Unterricht in Behelfsräumen statt, die von der Straße aus nicht zu sehen waren. Auch in der Totenstadt lernten die Kinder noch »Das Lied von der Glocke« auswendig und dass Gehorsamkeit und Heldenmut deutsche Tugenden seien. Vor allem lernten sie, dass die Frau dem Mann zu dienen habe und der Mann dem deutschen Vaterland.
    »Siehst du, sie brauchen doch nicht sämtliche Schulen, um die Ausgebombten unterzubringen«, sagte Hans, »es sind welche für die Kinder übrig geblieben, die noch in der Stadt sind. Bald kannst du auch zur Schule gehen. Wir werden jetzt endlich Papiere für dich beantragen können. In diesem ganzen Durcheinander stellt niemand mehr irgendwelche Fragen. So viele haben ihre Unterlagen verloren.«
    »Was für Papiere?«
    »Papiere, damit wir dich anmelden können. Im Leben und in der Schule. Es nagt schon lange an mir, dass du keine Identität hast. Wir könnten, wenn es sein müsste, überhaupt nicht beweisen, dass du uns gehörst, dass du unsere Tochter bist. Wenn wir Glück haben, kriegen wir auch bald eine Lebensmittelkarte für dich.«
    »Und wie heiße ich dann?«
    »Fanny Dietz natürlich. Dann kann dich niemand uns wegnehmen. Dann hast du sogar die arische Großmutter, die ein deutscher Mensch zum Leben braucht. Um Gottes willen, Fanny, was hast du denn? Du bist ja bleich wie eine Wand. Du weinst ja.«
    Er hielt sie fest, ehe sie fallen konnte, und er drückte sie, bis sie zu zittern aufhörte. Sie setzten sich auf einen Stein, der Teil einer Mauer gewesen war, und starrten in die Sonne. Auch Hans kamen die Tränen, doch er begriff nicht, was er ihr angetan hatte. Fanny hörte sich atmen; sie drückte beide Hände gegen ihre Brust und versuchte sich vorzustellen, was nicht vorstellbar war. Endlich stand sie auf. Sie strich die Feuchtigkeit aus ihrem Rock, und weil sie sehr leise sprechen musste und auch Hans aufgestanden war, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. »Ich kann mich doch nicht von meinem Namen trennen«, erklärte sie. »Stell dir mal vor, mein Vater lebt noch oder meine Mutter kommt von dort zurück. Oder meine Großeltern. Vielleicht kommt Onkel Erwin aus Palästina her und sucht mich. Wie

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