Heimkehr in Die Rothschildallee
weg, Erwin. Im Leben muss es gerecht zugehen.«
Es war das erste Mal seit der Abfahrt, dass Betsy die Kraft der Bilder genoss. Sie wagte sogar, die Sabbatkerzen anzuzünden. Josepha im schwarzen Kleid und mit weißer Schürze brachte die Suppenterrine herein. Spiel nicht mit dem Messer, Fanny. Du willst doch eine Dame werden.
»Ich will nicht mehr«, schrie Betsy, »nie mehr.« Sie legte ihre Hände um den Hals und schwor dem Gott, dem sie zürnte, nie wieder den Weg zurückzugehen, sich nicht mehr auf schöne Bilder einzulassen, nicht auf Mozart und nicht auf Kinderlachen. Es war zu spät. Der Tod trug Feuer. Er grinste und winkte ihr zu. Mit großen Stichen nähte er den gelben Stern auf Fannys schwarzen Mantel. Einer Frau von dreiundsiebzig Jahren stehen keine Türen mehr offen, entschied er.
Betsy begriff die Höllenbotschaft: Sie hatte sich selbst überlebt. Es war eine Tote, die nach Frankfurt zurückreiste. Ihre Arme wurden streif, die Beine auch, schließlich war der Druck im Kopf so gewaltig, dass sie nicht mehr sehen und hören konnte. Da erst rief sie um Hilfe. Ihre Stimme war laut wie die eines Mannes, doch keiner kam. Nicht der freundliche Fahrer mit dem Bubengesicht, nicht Josepha, die doch immer herbeigestürzt war, wenn einer der Ihren in Not war. Johann Isidor schaute die Frau, mit der er fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen war, noch nicht einmal an. »Es ist eine Sünde, Tote zu wecken«, monierte er.
Betsy empfand kein Bedauern, als sie erkannte, dass Gott dabei war, seinen Entschluss zu revidieren, sie zu retten. Sie brauchte nicht mehr zu leben, war endlich auf dem Weg, den sie schon so lange hatte gehen wollen. Betsy wollte sich vom Fahrer verabschieden, wollte ihm genau erklären, wo ihre Zigaretten steckten und dass sie die zwei linken Handschuhe nicht mehr brauchen würde, aber sie kam nicht mehr dazu, aufzustehen und nach vorn zu gehen. Pat, der unbekümmerte Steuermann, drückte in voller Fahrt auf die Bremse.
Der Bus hatte in einem eingezäunten Gebiet angehalten. Zwei bewaffnete Männer in amerikanischer Uniform öffneten ein Tor. Die Häuser dahinter waren unversehrt, Fenster mit vergilbten Gardinen standen offen. Die Haustüren waren grün angestrichen. Eine Männerunterhose hing auf einer Leine. Nirgends waren Menschen zu sehen. Auf einem Rasenstück stand ein gelb angestrichener Stuhl. Pat zog seine Jacke an, setzte die Mütze auf und stieg kauend aus dem Bus. Er sagte: »Ho!«, schüttelte pfeifend die Starre aus seinen Armen und schlang sie um den Bauch. Drei junge Soldaten und zwei Krankenschwestern, die eine Trage schoben, liefen auf den Bus zu. Ein grauhaariger Offizier, Orden auf der Brust und Dokumente und einen Stempel in der Hand, riss die vordere Tür auf. »Attention!«, brüllte er. »Sitzen bleiben!« Er verteilte einen eng bedruckten Bogen Papier an alle, erläuterte »Militärregierung« und fluchte. »Die Militärwachen«, las er vor, »haben Befehl erhalten, auf alle Personen zu schießen, die während der Ausgangsbeschränkung außerhalb ihrer Häuser gesehen werden und sich zu verbergen oder zu entkommen versuchen.«
Ehe der Offizier fertig gelesen hatte, begriff Betsy, wie dringend es war, umgehend klarzustellen, dass sie in Frankfurt weder ein Haus hatte, das sie zur falschen Zeit verlassen würde, noch dass es sie verlangte, irgendwohin zu entkommen oder sich zu verbergen. Sie hob den rechten Arm, um sich zu Wort zu melden. Zu ihrer Verblüffung erinnerte sie sich an das englische Wort für bitte, und obgleich sie der Offizier nicht anschaute, hauchte sie schüchtern »Please«. Es war der Moment, in dem ihr aufging, was ihr widerfahren war.
Sie starrte auf den hohen Stacheldrahtzaun. Keinen Moment bezweifelte sie, dass der ahnungslose Pat, der Österreich mit Australien verwechselte, gar nicht nach Frankfurt gefahren war, sondern zurück in die Hölle, zurück nach Theresienstadt. Weil sie jedoch ohne Angst war, gelang es Betsy, dem Gewehrfeuer der Torwachen zu entkommen. Erleichtert glitt sie in die große Dunkelheit.
»Arme alte Haut«, sagte die ältere der beiden Krankenschwestern, als die Bewusstlose endlich auf der Trage lag. »Übersteht das Konzentrationslager und hat nichts mehr davon.«
»Aber sie atmet doch.«
»Keine Stunde mehr. Das sehe ich. Auf mich kannst du dich verlassen, meine Liebe. Mein alter Chef hat immer gesagt, Schwester Nancy kann den Tod riechen.«
4
WEISSE WESTE UND SPECK
Herbst 1945
So einig wie im Herbst 1945 waren
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