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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Frankfurter Seite waren Ruinen, und doch erschien das Stadtbild Betsy vertraut. Ihre Augen brannten. Sie spürte Wärme in ihren Gliedern und gleichzeitig einen Trotz, den sie nicht zu deuten vermochte, der ihr jedoch nicht unangenehm war. Durfte das sein? War es nicht Verrat an den Toten, sich an das Gute in Frankfurt zu erinnern? Mochten der Fluss und der Himmel über ihm, das Gras am Ufer und die Bäume noch die gleichen sein wie in den Tagen der Fülle, Betsy empfand es als Verpflichtung, sich nicht mehr an Schönheit zu freuen. Schönheit war nur für die Lebenden. Bedeutete denn das bloße Fehlen von Angst bereits Sicherheit oder gar neue Geborgenheit? Tote brauchten keine Geborgenheit mehr, und sie, Betsy Sternberg, für die Frankfurt Heimat gewesen war, war tot.
    »Ganz tief atmen«, ermahnte sich Betsy, »nicht bewegen, wenn es geschieht. Bloß nicht nach Gott rufen und auf sich aufmerksam machen. Gott ist tot.«
    Ihre Stimme trommelte in den Ohren, sie machte sich zu der letzten Reise bereit, doch der Tod schritt an ihr vorbei. Genau wie damals. Benommen starrte Betsy auf den Main. Gleißendes Licht quälte ihre Augen, und doch war sie wieder die junge und wohlhabende, die respektierte Madame Sternberg – mit Köchin und Kindermädchen und einer purpurnen Federboa. Mit den Zwillingen ging sie im Nizza am Main spazieren, aber die Kinder liefen weg, und sie wusste nicht, wo sie sie suchen sollte. Immer wieder rief Betsy nach Clara und Erwin. Die ewig Ungehorsamen saßen hinter einem Baum mit mächtigem Stamm, bewarfen Spaziergänger und Hunde mit Nussschalen und schnitten furchterregende Grimassen. Nur die Kinder reicher Leute wagten es, so unverschämt zu sein. »Jetzt ist genug«, warnte Betsy.
    »Genug von was?«, fragte Clara.
    Aus dem Nebel der Erinnerungen tauchten alte Ansichtskarten auf. Sie zeigten Aufnahmen vom Dom und dem Römer, die alten Häuser in Sachsenhausen, Bembeln und Bretzeln. Immer stand »Grüße aus der Heimat« in Sütterlinschrift auf der Vorderseite. Wunderbare schneeweiße Möwen flogen in einen meerblauen Himmel.
    »Friedenstauben«, freute sich Betsy.
    »Nebbich, Friedenstauben«, antwortete Johann Isidor. »Frieden wird es nicht mehr geben. Nicht für uns.«
    »Woher willst du das wissen? Es kann doch nur noch besser werden.«
    »Wenn sich Gnädigste da mal nicht täuschen. Es wird nie besser.«
    Als ihr Mann das sagte, tauchte das Gesicht von seinem Kompagnon im Postkartenverlag auf – Pius Ehrlich baute sich vor Betsy auf und erklärte, er hätte keine Veranlassung, sich zu verstecken. »Nicht die geringste«, sagte er zwei Mal hintereinander. Er hielt den Kopf hoch und lächelte, aber Betsy ließ sich nicht täuschen. Von Pius Ehrlich schon gar nicht. Er hatte noch vor dem Brand der Synagogen zwei von den drei Sternberg’schen Grundstücken an sich gerissen. Wahrscheinlich, beschuldigte sie ihn, auch die Posamenterie in der Hasengasse und die Rothschildallee 9.
    »Pius Ehrlich«, schrie sie. Ihre Stimme war unerträglich laut. Ihre Kehle verbrannte und dann ihr Körper. Sie versuchte, sich mit den Armen zu schützen, aber die Flammen loderten weiter. Sie rief nach denen, die nie mehr kommen würden.
    »Wie kommen Sie bloß auf so ein totes Wort? Ehrlich. Ehrlich waren die Deutschen von Anfang an nicht«, empörte sich ein älterer Mann. Er saß hinter dem Fahrer, schüttelte seinen kleinen Kopf und bedrohte Betsy mit einer Faust, die schneeweiß war und nicht größer als die eines zehnjährigen Kindes. »Ehrlich«, schnaufte er, »du meine Güte. Sagen Sie nur, das Wort bedeutet Ihnen noch was. Wo haben Sie denn die letzten Jahre verbracht? Im Sanatorium? Das ist gut, Sanatorium Theresienstadt. Das muss ich mir merken.«
    »Ich wollte Sie nicht kränken«, stammelte Betsy, »wirklich nicht. Das kam mir wahrhaftig nicht in den Sinn. Das hab ich nicht so gemeint. Es war alles ganz anders. Ich kann es auch nicht erklären.«
    Sie glaubte, den Frankfurter Dom zu sehen. Trotz der Hitze im Bus wurden ihre Finger winterklamm. »Das kann doch gar nicht sein«, murmelte sie, »der Dom ist bestimmt nicht davongekommen. Gott schützt seine Häuser nicht. Die brennenden Synagogen hat er ja auch nicht gelöscht.«
    Betsy Sternberg, die ja nun wieder mit ihrem Namen angeredet wurde und nach deren Befinden sich fremde Menschen so regelmäßig und aufmerksam erkundigten, als sei es in Deutschland eine amtliche Verfügung, sich für den körperlichen und seelischen Zustand von

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