Heimkehr in Die Rothschildallee
Gesicht hatte sie nicht mehr sehen können, ihre Güte, ihren Mut und ihre Anhänglichkeit hatte sie vergessen. Josepha war es gewesen, die am Tag vor dem Judenboykott beim Bäcker einen Mohnzopf für den Sabbat bestellt hatte. Als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Das vergessen wir Ihnen nie, Josepha! Hatte sie das gesagt oder Johann Isidor? Warum hatte sie, Betsy Sternberg, von der jeder behauptete, sie hätte einen guten Charakter, ihre Gefühle vereist? Nur damit sie weiterleben konnte, hatte sie alle Liebe aus ihrem Herzen gerissen.
Schon war es Betsy nicht mehr gegenwärtig, dass es in Theresienstadt einem Todesurteil gleichkam, der Sehnsucht nach dem Gewesenen nachzugeben und sich um die zu sorgen, die man liebte. Wer im Lager schwach wurde und nur einen Moment vor der furchtbaren Gegenwart in sein früheres Leben floh, war so gut wie tot. Und trotzdem drängte es sie zur Rede, obwohl sie doch gelernt – und erlebt! – hatte, dass jedes Wort, das man zu Fremden sprach, ein Wort zu viel war.
»Josepha war unsere Köchin«, erklärte sie ihrer verängstigten Leidensgenossin. »Sie hat uns umsorgt wie eine Mutter ihre Kinder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es überstanden hat, niemanden mehr zu haben. Sie war vollkommen von uns abhängig. Aber wir auch von ihr. Ich glaube, mein Sohn Erwin hat mehr an ihr gehangen als an mir. Wenn er von der Schule kam, rief er nicht nach mir, sondern nach Josepha. Schon auf der Treppe! Ich hab mich immer geärgert.«
Die Frau zog die Decke höher. Nur ihr Vogelkopf war noch zu sehen, die spitze weiße Nase und die toten Augen. Einen Moment belebte ein ablehnender, mürrischer Zug ihr ausdrucksloses Gesicht. »Ich hab immer selbst gekocht«, unterbrach sie Betsy in scharfem Ton. »Meinem Mann hätte es bei keiner anderen Frau geschmeckt. Weiß Gott nicht! Er konnte es ja noch nicht einmal leiden, wenn seine Mutter den gefilte Fisch für den Freitagabend gemacht hat. Dann hat er immer gesagt, bei der Mama schmeckt der Fisch wie Pappe. Pappe mit Zucker. Mein Arthur wusste genau, was er wollte. Er hätte mit jeder Köchin kurzen Prozess gemacht, die ich angebracht hätte. Dabei hätten wir uns spielend eine leisten können. Ja, das hätten wir!«
Betsy spürte den Vorwurf. Sie hatte das Bedürfnis, die Unterhaltung ungeschehen zu machen, doch sie kannte sich nicht mehr aus mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten des bürgerlichen Lebens; sie hatte keine Ahnung, wie eine, die sich blamiert hatte, ihre Verlegenheit kaschierte. »Ach«, sagte Betsy. Nach einer Weile fragte sie, obgleich sie keine Antwort erwartete: »Warum?«
Zum wiederholten Mal machte sie sich klar, wie aberwitzig und peinigend es sein würde, nach Frankfurt zurückzukehren und so zu tun, als freue man sich auf einen Neuanfang. Vielleicht mit weißen Tischtüchern, Messerbänkchen und Mokkatassen? Wer hatte die Witwe Sternberg, deren Mann, Tochter und Enkelkind wie Postpakete zum Sterben in den Osten verschickt worden waren, überhaupt gefragt, ob sie wieder in Frankfurt leben wollte? Und wenn sie jemand gefragt hätte, was hätte sie antworten sollen? Danke sehr, Sie sind ja so gut zu mir, ich brenne nämlich darauf, wieder in Frankfurt zu leben und so zu tun, als sei nichts geschehen und als wäre ich nie weg gewesen? Können Sie mir sagen, wie ich wieder an meine Familie und an mein Haus komme, an meine Möbel und an das Tafelsilber von meiner Großmutter?
»Der alte Herr mit dem langen weißen Bart, der ganz hinten im Bus sitzt, hat mir gestern Abend erzählt, der Bürgermeister persönlich hätte den Befehl gegeben, die Frankfurter Juden aus Theresienstadt zurückzuholen«, erzählte Betsy.
»Und das glauben Sie?«, wunderte sich die Frau unter der Decke. »Der werte Herr Bürgermeister hätte lieber dafür sorgen sollen, dass man uns gar nicht erst nicht deportiert. Krebs hieß der Kerl. Das weiß ich genau. Ich hab mir seinen Namen die ganzen Jahre gemerkt. Die ganze Zeit.«
»Vielleicht haben sie jetzt einen anderen Bürgermeister. Jedenfalls habe ich mir das Ganze hier mit einem neuen Bürgermeister erklärt. Vielleicht ist das einer, der zeigen will, dass er kein Nazi war. Mein Gott, der Main«, entfuhr es Betsy. »Das muss er sein. Ja, das ist er. Bestimmt!«
Sämtliche Frankfurter Brücken waren in den letzten Kriegstagen von den Deutschen gesprengt worden. Nur eine vom amerikanischen Militär errichtete Pontonbrücke verband die beiden Flussufer, die Häuser auf der
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