Heimkehr in Die Rothschildallee
Überlebenden aus den Konzentrationslagern zu interessieren, wähnte ein paar Minuten später, sie hätte das Opernhaus erblickt. Sie zermarterte ihr Gedächtnis, ob die Oper für die Familie Sternberg irgendeine Bedeutung gehabt hatte. War das Haus freundlich gewesen, anheimelnd, schön? Ihr erschien es, als würde sie gegen Berge und Mauern laufen, nichts mehr hören und immerzu graue Nebelgestalten sehen, die sie verhöhnten und mit schwarzen Stiefeln nach ihr traten. Und doch erinnerte sie sich, dass eine Aufführung in der Oper für die Familie Sternberg fester Bestandteil des Lebens gewesen war, ebenso das Treffen mit Freunden im Café, Theater und Kino. Und an den Feiertagen die Synagoge, erinnerte sich Betsy. Sie hatte auch nicht vergessen, dass die Synagoge in der Börnestraße niedergebrannt war, ebenso die in der Friedberger Anlage und wahrscheinlich alle anderen auch. Ob es in Frankfurt überhaupt noch eine Synagoge gab? »Wenn man uns nach Frankfurt zurückholt, braucht man doch auch eine Synagoge«, sagte sie zu ihrer Mitfahrerin.
»Sie haben Sorgen!«, brummte die Frau.
Betsy rieb ihre Augen, bis sie nichts als kleine farbige Punkte in einer schwarzen Fläche sah, doch nicht eine einzige Träne erlöste sie. Sie schämte sich, dass der Gedanke an Tränen ihr überhaupt gekommen war. Eine Frau, deren Mann ermordet worden war, eine Mutter, deren Tochter nicht hatte leben dürfen, eine Großmutter, die keine Hand gerührt hatte, um ihren Enkelsohn ins Leben zurückzuziehen, die weinte nicht mehr.
»Er war doch ein Kind«, sagte sie, »ein Kind darf keiner in den Tod schicken.«
Betsy fiel auf, dass ihr Gesicht sich in den Scheiben des Busses spiegelte, aber sie mochte der Frau, die ihr begegnete, nicht in die Augen schauen. Das Bewusstsein, dass ihr Leben eines ohne Besitz und ohne Erwartung geworden war, lähmte sie. Noch nicht einmal das verwaschene rosa Unterhemd mit den geflickten Trägern, das sie seit der Abfahrt von Theresienstadt trug, gehörte ihr. Sie strich den Rock glatt. Der bedeckte kaum ihre Knie, war novembergrau und aus grobem Stoff, schlotterte um ihren mageren Körper und war für den Sommer viel zu warm. Zum Rock trug sie eine langärmelige weiße Bluse mit kleinen schwarzen Punkten und üppigen Rüschen auf der Brust. Der Rüschenbluse war anzusehen, dass sie aus einem auf Repräsentieren eingestellten Haus stammte. Der Winterrock und ein Büstenhalter, gedacht für eine Frau, die nicht jahrelang Hunger gelitten und dreißig Pfund abgenommen hatte, das Unterhemd und eine olivfarbene Männerunterhose waren Betsy zusammen mit einem braunen Häkelschal, sehr derben Schnürschuhen, die ihr eine Nummer zu groß waren, und zwei linken Handschuhen am Morgen der Abfahrt übergeben worden. Die Kleidungsstücke, in braunes Papier verpackt, waren mit der Aufschrift »Property of the US Army« versehen gewesen.
Das graue Kleid und die Sandalen mit durchgelaufenen Sohlen, die sie noch am Tag der Befreiung von einer Rotkreuzhelferin erhalten hatte, waren Betsy von einer jungen Frau in amerikanischer Uniform abgenommen worden. Die Uniformierte hatte wegen des bestehenden Fraternisierungsverbots der amerikanischen Armee mit keiner Frau geredet, die Deutsch sprach, jedoch durch Kopfschütteln und Fluchen ihr Mitleid bekundet. Unmittelbar vor der Abfahrt des Busses hatte die Soldatin einer verstummten, zahnlosen Greisin und Betsy Zigaretten, einen Schokoladenriegel mit der Aufschrift »Hersheys«, ein Päckchen Kaugummi und eine Kerze in die Hand gedrückt.
Betsy war zu erschöpft, um sich Gedanken zu machen, wohin der Kaugummi und die Kerze geraten waren. Hauptsache, es gelang keinem, ihr die Zigaretten abzunehmen, die sie unter ihr Unterhemd geklemmt hatte. Zigaretten waren Währung. Für Zigaretten konnte ein Mensch Brot kaufen – Butter, Fleisch und Medikamente, sogar Leben! Erwin, wenn du noch ein einziges Mal auf dem Speicher rauchst, dann sag ich’s Vater. Wenn du schon keine Rücksicht auf deine Gesundheit nimmst, dann zünde deinen Geschwistern wenigstens nicht das Haus über dem Kopf an.
Die Kinder spielten im Wohnzimmer. Victoria mit Ottos Zinnsoldaten. Johann Isidor las die »Frankfurter Zeitung« und sagte, in Frankfurt würde den Juden nichts Böses geschehen. Frankfurt wüsste ja, was es seinen jüdischen Bürgern zu verdanken hatte. »Ja«, stimmte ihm Betsy zu. Sie setzte sich ans Klavier, und Josepha brachte einen Krug Himbeerlimonade. »Trink deinen Schwestern nicht alles
Weitere Kostenlose Bücher