Heimkehr in Die Rothschildallee
sich die Deutschen zwölf Jahre lang nicht gewesen: Den Frieden hatte man sich anders vorgestellt. »Ganz anders«, schniefte Gudrun Schmand, noch vor einem Jahr als Ehefrau des gefürchteten Blockwarts Willibald der Schrecken des Hauses Thüringer Straße 11. Wann immer von der deutschen Gegenwart die Rede war, verdüsterte ein leidender, beleidigter Zug Frau Schmands Mund. Sie trug keine bayerischen Janker mehr, die ihre stramm-germanische Figur betonten, und keine offenherzigen Dirndlblusen; sie kleidete sich in graue Kattunröcke und dunkle, grob gestrickte Pullover, die alle zwei Nummern zu groß waren. Seit Deutschlands finaler Niederlage hatte sie dreizehn Pfund an Gewicht, den Glauben an die Gerechtigkeit und große Teile ihres Gedächtnisses verloren.
Gudrun Schmand konnte sich nur mit Mühe erinnern, dass zwölf Jahre lang Adolf Hitler der wichtigste Mann in ihrem Leben gewesen war, und schon gar nicht war ihr noch gegenwärtig, dass sie am 24. März 1944 morgens um sieben wutschnaubend zur Polizei gehetzt war, um die Witwe Amalia König wegen »volksschädigender Auslassungen« anzuzeigen. Frau König, deren einziges Kind, ein Pastor, den Kampf um Stalingrad nicht überlebt und die Geburt seines ersten Sohns nicht erlebt hatte, hatte im Luftschutzkeller gesagt, die furchtbaren Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung wären »doch nichts anderes als Gottes Strafe für die Bomben, die die Deutschen auf Coventry« geworfen hätten.
Vollkommen vergessen hatte Frau Schmand, dass sie ihren Willibald buchstäblich in den letzten Lebenstagen des Dritten Reichs getriezt hatte, er solle »ein ganzer Mann sein und rauskriegen, was es mit dem fremden Balg« auf sich hätte, das seit fast vier Jahren bei der Familie Dietz lebte »und mich immer so anglotzt, als hätte es gerade eine Ohrfeige bekommen«. In dieser Beziehung war es zu entscheidenden Veränderungen gekommen. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Frankfurt war es nämlich Frau Schmand, die verschreckt reagierte, wenn sie im Hausflur dem »Balg« begegnete. Bereits zu Beginn des Herbstes war sie jedoch schon wieder in alter Form. Sie hätte noch einen teuren, nie getragenen Pullover von ihrem Eberhardt im Schrank, sagte sie zu Fanny. Den wollte sie raussuchen und sehen, »ob er dir passt, mein Kind. Meinem guten Eberhardt wäre das bestimmt recht gewesen. Der Junge war ja immer darauf aus, anderen eine Freude zu machen.«
Fanny wusste es anders. Bei seinem letzten Heimaturlaub hatte Eberhardt auf der dunklen Kellertreppe nach ihrer Brust gegriffen. Sie hatte erschrocken aufgeschrien, der junge Schmand nach ihr getreten und »Stell dich bloß nicht so an, du Zigeunerzicke« gebrüllt.
Frau Schmands neue Vertraulichkeit ängstigte Fanny – noch mehr als die frühere Feindseligkeit. Entsetzt fragte sie Anna, ob sie denn wirklich einen Pullover von Frau Schmands Sohn würde tragen müssen.
»Du musst gar nichts«, sagte Anna. »Müssen ist vorbei. Ein für alle Mal vorbei.« Sie drückte Vickys Tochter an sich und flehte dabei schweigend um das Wunder, an das sie längst nicht mehr glaubte. Seit Kriegsende war Hans vier Mal auf dem Einwohnermeldeamt gewesen, um nach der Familie Sternberg zu forschen, jedoch hatte er nicht einmal erfahren können, wohin Johann Isidor, Betsy, Victoria und Salo deportiert worden waren. Bisher hatte es auch nichts genutzt, dass im Hause Dietz noch die Amsterdamer Anschrift von Fannys Vater vom Juni 1939 bekannt war. Der Postverkehr ins Ausland war noch nicht aufgenommen worden, und augenscheinlich hatte Fritz Feuereisen nicht probiert, über die üblichen Suchdienste seine Familie zu finden.
»Als Rechtsanwalt hätte er ja gewusst, wie man mit Ämtern umgeht«, sagte Anna.
Hans sprach aus, was beide fürchteten. »Von den Juden, die in Holland wohnten, als die Wehrmacht dort einmarschiert ist, dürften die wenigsten davongekommen sein. Auch wenn es im Land eine ganz andere Widerstandsbewegung gegeben hat als bei uns, hatten sie verdammt wenig Chancen.«
Fanny erwähnte ihre Eltern nie, doch sie schien zu spüren, dass ihre Mutter und ihr Bruder tot waren. Anna sah sie oft mit dem alten Schulatlas am Fenster sitzen und ins Leere starren. Immer war es die Karte von Holland, die sie aufgeschlagen hatte. Im September, um die Zeit der hohen jüdischen Feiertage, fragte sie schließlich, ob man schon von Amsterdam nach Frankfurt reisen könne.
»Wie erklärt man einem Kind, was man keinem Erwachsenen erklären kann?«,
Weitere Kostenlose Bücher