Heimkehr in Die Rothschildallee
fragte Hans.
»Fanny ist kein Kind«, wusste Anna, »schon lange nicht. Ich bin ganz sicher, dass sie Bescheid weiß.«
»Da weiß sie mehr als die meisten unserer verehrten Landsleute. Oder kennst du jemanden, der gewusst hat, dass es in diesem Land die Gestapo und Konzentrationslager gab? Und Menschen, die mit einem gelben Stern gebrandmarkt und durch die Straßen getrieben wurden und die seitdem verschwunden sind?«
Die besiegten Deutschen stellten keine Fragen. Die Mehrheit war damit beschäftigt, ihre Vergangenheit so gründlich umzufärben wie die ausgedienten Militärmäntel und Uniformjacken, aus denen die Wintermode 1945 geschneidert wurde. Von der Hitlerzeit wurde nicht laut gesprochen, Lebensläufe wurden dreist umgeschrieben, freiwillig hatte keiner »mitgemacht«. Von Anfang an hatte man gewusst, dass »das mit den Nazis kein gutes Ende nehmen« würde. Kirchgänger und Atheisten waren sich endlich einig: Gottes Mühlen mahlten »langsam, aber gerecht«. Zwei Sätze waren typisch für die neue Zeit: »Das hat der Führer bestimmt nicht gewusst«, sagten die, die nicht zu glauben vermochten, was sie hörten. »Die Autobahnen macht ihm aber keiner nach«, wussten die Getreuen.
»Wer seine Hände in Unschuld wäscht, spart Seife«, befand Hans, als Frau Schmand ihn beim Fegen der Straße abfing und umgehend über ihre einwandfreie politische Vergangenheit referieren wollte.
»Ich hab damals sofort gewusst, dass mit Ihrer Fanny nicht alles koscher war, Herr Dietz«, konterte die mutige Besenschwenkerin, »aber zum Glück hat unsereiner ja gelernt wegzuschauen. Was habe ich alles gesehen und gehört. Und für mich behalten. Darauf bin ich richtig stolz.«
»Das können Sie auch sein, Frau Schmand. Ich hab schon damals zu meiner Frau gesagt, Leute wie Sie braucht das Land.«
Bei der Tasse Muckefuck, die sich die Eheleute Schmand zum Abendessen gönnten, beklagte sich Frau Gudrun erbittert: »Dass ich jetzt so einen Mistkerl behandeln muss, als wäre er einer von uns! Wenn man bedenkt, dass sich der ehrenhafte Herr Dietz und seine Sippschaft vor einem Jahr noch in die Ecke verpisst haben, wenn ich einen von ihnen nur scharf angeschaut habe, könnte ich verrückt werden.«
»Scharf anschauen ist nicht mehr«, wusste Willibald. »Jetzt sind wir es, die scharf angeschaut werden. Die Blockwarte hat es ganz übel getroffen. Wir sind die bösen Buben der Nation. Jedes Wort müssen wir auf die Goldwaage legen. Jedes verdammte Wort.«
Trotz der Last mit der eigenen Biografie erschien es den Betroffenen immer noch einfacher, an eine saubere Weste als an einen Laib Brot zu kommen. Für die weiße Weste brauchten die, die auf amerikanischen Behörden und deutschen Ämtern ihre makellose Vergangenheit belegten, lediglich Fantasie, Unerschrockenheit und die Unverfrorenheit, an die eigenen Lügen zu glauben. Dass jedoch im Frieden, um den die Menschen so inbrünstig gebetet hatten, der Hunger ganz Deutschland würgen würde, hatten sich weder die Guten noch die Bösen, nicht die Frommen und nicht die Gottlosen vorgestellt. »Es gibt in Deutschland nur noch Mangel, aber davon jede Menge«, war die gängige Erkenntnis. Fanny kam nach zwei Stunden Schlangestehen ohne Brot und ohne Mehl vom Bäcker nach Hause, jedoch mit dem neuesten Witz. »Ab sofort gibt es Henkersmahlzeiten nur noch auf Lebensmittelkarten«, erzählte sie.
Vor der Rossschlachterei in der unteren Berger Straße standen die Menschen stundenlang bei Sturm und Regen für ein Pfund Pferdefleisch Schlange, doch gingen die meisten leer aus. Die auf den Karten vorgesehenen Zuteilungen gelangten so gut wie nie in die Geschäfte; an vielen Ladentüren klebten Pappschilder mit der Aufschrift »Keine Ware«. Bei einem Metzger im Sandweg lag nur eine Silberschale mit einem Porzellanschwein auf der Verkaufstheke, der nächste mahnte: »Lassen Sie Ihre Fleischmarken nicht verfallen. Für hundert Gramm Fleischmarken gibt es hier vierzig Gramm Zucker.« Viele Geschäfte mussten über zerfallene Stiegen erreicht werden, die Fenster waren ohne Glas.
Wer Kartoffeln für die Suppe und Milch für sein Kind, Holz für den Küchenherd, Schuhsohlen, Windeln, Nähgarn oder Medikamente brauchte, dem blieb nur der Schwarzmarkt. Dort kostete ein Pfund Butter zwischen zweihundertfünfzig und dreihundertundzwanzig Reichsmark, für einen Zentner Kartoffeln wurden bis zu achthundert Mark verlangt und für ein Pfund Speck zweihundert. Bohnenkaffee und amerikanische Zigaretten waren
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