Heimkehr in Die Rothschildallee
auf grauen Decken oder Blechkisten; auf vielen stand »Gefahrgut«. Leiterwagen waren mit Ästen, Zweigen und Gestrüpp aus den Grünanlagen und Parks beladen. Ein Ehepaar fürchtete augenscheinlich weder die Polizei noch körperliche Strapaze; die beiden schleppten schnaufend die schwere Lehne einer Holzbank. Deutlich zu sehen waren die kleinen Löcher von den Schrauben, die das Schild »Für Juden verboten« gehalten hatten. Im Augenblick der Erinnerung an das, was auf die Verbotsschilder gefolgt war, lähmte Hans eine siedende Wut. Wie Hammerschläge dröhnten der Zorn und der Schmerz in seinem Kopf. Er starrte das Ehepaar so empört an, als hätte die gestohlene Banklehne ihm gehört. Der Mann wurde unsicher und stellte seine Last ab. »Guten Tag«, sagte er leise.
»Mit wem redest du denn da?«, herrschte ihn seine Frau an. »So weit kommt’s noch, dass wir Krethi und Plethi Rede und Antwort stehen.«
Schweigend hinkte Hans weiter. Die Straßenbahn, die bis Kriegsende den Zoo und die Saalburgallee verbunden hatte, war noch nicht wieder in Betrieb, nur eine der Haltestellen intakt. Ein Teil vom Fahrplan klebte an der alten Tafel. Ein grauer Riesenschnauzer mit verfilztem Fell und hervorstehenden Rippen suchte zwischen den mit Gras überwucherten Gleisen nach Nahrung. Hunde waren im befreiten Deutschland ebenso selten wie Papiertüten, Parkbänke und die Bezugsscheine für Ledersohlen, Winterkleidung und Verbandsmaterial. Zwei ausgelassene Jungen, etwa zwölf Jahre alt, die Beine nackt und blau gefroren, die Stiefel an der Spitze abgeschnitten, damit ihre Füße hineinpassten, kickten eine zerbeulte Dose, beklebt mit den blau-weißroten Streifen und Sternen der amerikanischen Flagge. »Tomato soup«, buchstabierte Hans. Er nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass seine Kinder beizeiten Englisch lernten. »Und Französisch«, kündigte er an. Er sprach so laut, dass er sich erschrocken umdrehte.
Es gab auf der Strecke viele Spuren vom Krieg und überall noch Kriegspropaganda. Schon nach sieben Monaten Frieden wirkten die Durchhalteparolen wie schlechte Scherze. An zerschossenen Mauern und an vielen Fenstern, die mit Holz zugenagelt waren, stand »Räder müssen rollen für den Sieg!«, »Volk ans Gewehr« und »Lieber tot als Sklave«. »Alles Kacke, dein Fritz«, hatte besagter Fritz an ein unbewohnbar gewordenes Haus geschrieben. An einer Telefonzelle ohne Tür und ohne einen Apparat klebte noch die Warnung »Feind hört mit«. Hans fiel zum ersten Mal auf, dass der lauschende Feind, der das deutsche Kriegsglück gefährdete, als verschlagener Jude dargestellt war.
Radfahrer jeden Alters waren unterwegs, alle mit prall gestopftem Rucksack, auf dem Gepäckträger sperrige Pappkartons oder mit schäbigem Hausrat gefüllte Zinkwannen. Gelegentlich fuhr ein offener Wagen mit deutscher Nummer an Hans vorbei, auf der Ladefläche, weil Benzin für deutsche Normalverbraucher kaum zu haben war, ein mit Holz betriebener Gasgenerator. Umso unerwarteter war es, als in der kurzen, seit jeher stillen Maximilianstraße, die auf die Gagernstraße führte, ein Jeep auftauchte. Am Steuer saß ein Offizier, neben ihm ein sehr junger Soldat mit raspelkurzen Haaren und zwei Streifen am Ärmel. Er lehnte sich weit aus dem Wagen, grölte das Geburtstagslied »For he’s a jolly good fellow« und schlug sich auf die Brust. Der Jeep fuhr immer schneller; er raste auf Hans zu, der bis dahin mitten auf der Straße gelaufen war und nun in Panik den Bürgersteig zu erreichen versuchte. Einen Moment schien es tatsächlich so, als würde der Wagen entweder ihn erwischen oder ins Schleudern geraten, doch er kam abrupt zum Stehen. Bremsen und Reifen quietschten, der Fahrer drückte auf die Hupe, ließ sie nicht mehr los und pöbelte. »You fucking German fool!« Sein Beifahrer klatschte Beifall. Mit einer lächerlich hohen Stimme schrie er: »Bravo, jumping jack!« Er kratzte sich am Kopf wie ein lausender Affe und grinste. Dann spuckte er im hohen Bogen zum Jeep hinaus und warf seine kaum gerauchte Zigarette auf die Straße. »For the Kraut«, kreischte er, »for the ugly German Kraut.«
»Hast du dir so gedacht«, fluchte Hans hinter dem abfahrenden Jeep her. »Die Nutten stopft ihr mit Schokolade voll, und auf die Krüppel geht ihr los!« Es bereitete ihm körperliche Qual, sich nicht nach der Zigarette zu bücken. Mehr als die Hälfte war noch übrig, und er hatte seit einer Woche nicht mehr geraucht. Das letzte Päckchen Camel vom
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