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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Attlee neuer Premier« war noch lesbar.
    Ein dünner Rauchfaden kroch zur Zimmerdecke. Im trüben Morgenlicht sah der Rauch wie ein breites Gebäude mit einer Kuppel aus. Im ersten Moment erschien der Kuppelbau Anna vertraut, doch die Konturen lösten sich rasch auf. Trotzdem starrte sie weiter an die Decke. Es tat ihr wohl, vor dem Ofen zu hocken, Wärme zu spüren, die Sonntagsstille zu genießen und erst recht das Bewusstsein, dass trotz der miserablen Ernährungslage und trotz der Einschränkungen die Familie in Sicherheit war. »Fanny«, sagte sie zufrieden.
    Unmittelbar darauf murmelte Anna »Gagernstraße«. Verwirrt schob sie das zweite Brikett in die Glut, klappte die Ofentür mit zu viel Kraft zu, lauschte besorgt, ob eins der Kinder wach geworden war. Ein stechender Schmerz durchfuhr Kopf und Nacken. »Nein!«, befahl Anna, und dann sagte sie in einem tröstenden Ton: »Es ist nichts passiert, gar nichts.« Trotzdem rückten die Gespenster an. Es waren langbeinige Gestalten mit Armen aus Eisen, die auf Anna zurückten. Um ihnen zu entkommen, fixierte sie den Blasebalg. Es war ein teures Stück aus rotem Leder und mit vergoldeten Nieten; sie fand es wichtig, sich zu erinnern, woher sie ihn hatte, aber ihr Gedächtnis verweigerte sich ihr.
    Annas Stirn brannte; sie überlegte, ob sie Fieber messen sollte und ab welcher Temperatur sie es verantworten konnte, eine von den kostbaren Aspirintabletten zu nehmen – es waren nur noch drei Stück im Röhrchen, und Hans hatte frühestens in zwei Wochen Aussicht, an neue zu kommen. »Kein Aspirin«, entschied sie. Und dann, als hätte sie von Anfang an nicht an ihren Erinnerungen gezweifelt, sagte sie laut und deutlich und auch triumphierend: »Gagernstraße 36.«
    In der Gagernstraße war das jüdische Krankenhaus gewesen – bis 1933 in ganz Frankfurt bekannt und berühmt für seinen hohen medizinischen Standard und die vorzügliche Betreuung der Patienten. Im Ersten Weltkrieg hatte die sechzehnjährige Clara Sternberg dort, ohne dass ihre Eltern es ihr erlaubt hatten, verwundete Soldaten gepflegt. Noch jahrelang war der Eklat Gesprächsthema in der Rothschildallee 9 gewesen. Johann Isidor hatte seine Tochter in Schwesterntracht schäkernd am Bett eines Offiziers mit Kopfverband entdeckt, und die schöne Rebellin hatte sich auch im Angesicht des väterlichen Zorns geweigert, ihre Position an der Heldenbrust zu verlassen. Es gelang Anna nicht, die Bilder der Vergangenheit zu vertreiben. Zu oft hatte Clara, die Barrikadenstürmerin, die Szene nachgespielt. »Ich werde«, hatte sie ihren fassungslosen Eltern am Abend nach der Entdeckung verkündet, »nach dem Abitur Medizin studieren. Und heiraten werde ich nie. Da braucht ihr euch keine Hoffnung zu machen.«
    »Wenigstens die Ehelosigkeit hast du ja geschafft«, pflegte Erwin festzustellen, wann immer seine Schwester dieses Kapitel ihrer Erinnerungen aufblätterte.
    Anna trocknete ihre Augen mit der Schürze; sie konnte nicht an Erwin denken, ohne dass ihr die Tränen kamen, und nie wusste sie, ob sie lachte oder weinte. Diesmal peinigten sie nicht nur Bilder, auch der Klang und der Duft der geliebten Zeit fielen über sie her; erst hörte sie den leichten Singsang in Erwins Stimme, wenn er sich über seinen Vater mokierte, dann roch sie Claras herbes, selbst gemischtes Parfüm. »Es stinkt genau wie mein Rasierwasser«, sagte Erwin und hielt seine Nase zu. Clara nannte ihn einen Banausen, und Anna genierte sich, weil sie das Wort nicht kannte.
    Die dreijährige Fanny im grasgrünen Rüschenrock lachte. Ihr Vater warf sie in die Luft, fing sie, brummend wie ein Bär, wieder auf und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ich bin ein Vogel«, jubelte Fanny.
    »Mach das Kind nicht so wild«, rügte Victoria, »sie soll doch eine Dame werden.«
    »Hauptsache, sie wird nicht eine Dame mit deinem Humor«, parierte ihr Mann.
    Einen Herzschlag lang stellte sich Anna vor, Doktor Feuereisen würde plötzlich vor der Tür stehen und erfahren, dass seine Tochter lebte. Sie nahm sich vor, nicht wieder zu weinen, doch es war die Verzweiflung, die siegte. Ohne dass es dem Feuer guttat, stocherte sie in der Glut. Das Wasser für den Malzkaffee stellte sie viel zu früh auf. Mit einem Anflug von Trotz holte sie das letzte Glas Rübensirup aus dem Schrank. »Weil doch Sonntag ist«, beschwichtigte sie ihr Hausfrauengewissen; sie sah Josepha ihre Hände in die Hüften stemmen. Die stolze Herrschaftsköchin hatte Rübensirup immer einen

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