Heimkehr in Die Rothschildallee
egal was passiert, murmelte Hans. Dann hörte er sich husten. Husten wie einer, der noch lebte. Er kehrte in die Welt zurück.
Hans war in einen großen Garten mit drei hellen Holzbänken gelangt. Am Rand der Rasenfläche standen alte Kastanien, alle bereits ohne Blätter, aber mit auffallend kräftigen Ästen. Zwei fette Schafe mit dichtem Fell weideten im Gras. Im Gegensatz zu den Bäumen und dem Gebüsch war der Rasen noch sommersaftig. »Schafe«, seufzte Hans, »ihr habt auch nur den Metzger zu erwarten.« Er wunderte sich, dass er imstande war, so ruhig zu sprechen, als wäre er zu Hause. »Schafe«, wiederholte er, um seine Stimme zu prüfen. Dann sagte er noch einmal: »Metzger.«
Hatte er gelacht, und wenn ja, weshalb? Er holte sein Taschentuch aus dem Mantel, rieb die Augen so kräftig, bis sie tränten und ihn mit Blindheit bedrohten. Trotzdem konnte er kein einziges Bild, das auf ihn niederkam, aus seinem Kopf verbannen. Immer wieder sah er die Henker in SS-Uniform. Mit Peitschen und Knüppeln trieben sie Menschen in Todesangst aus dem jüdischen Krankenhaus – wie Anna es ihm von dem Marsch zur Großmarkthalle erzählt hatte. Wie lange die Kranken und Siechen, die Alten und die Kinder von der Gagernstraße wohl auf ihren Tod hatten warten müssen? Nach wem hatten sie gerufen? Wer war Zeuge ihrer Not gewesen? Ob einer, der zum Fenster hinausgeschaut und dem dann sein Mittagessen wie an jedem anderen Tag geschmeckt hatte, noch glaubte, er sei ein Geschöpf Gottes?
Hans, der in Polen Männer, Frauen und Kinder, Soldaten, Kameraden und Schinder hatte umkommen sehen, blickte zur Erde. In Demut wartete er auf das letzte Kapitel seines Lebens, denn er zweifelte nicht einen Herzschlag lang, dass der Tod, dem er im Krieg entronnen war, ihn im Frieden eingeholt hätte. Trotzdem fiel ihm auf, dass im großen Haus eine Tür offen stand. Wie er es gewohnt war, drängte sich Hans zur Kraft und zum Handeln. Er lief so schnell, wie ihn sein Körper ließ. Schließlich erreichte er einen langen, düsteren Gang, roch Krankheit und Vergehen, torkelte und würgte seinen Körper schwach. Ein Mann, den er spontan als Greis erkannte, obwohl er ihn nicht sehen konnte, keuchte. Es dauerte eine Ewigkeit der Angst, ehe Hans begriff, dass er es selbst war, der um Atem rang.
Von der hohen Decke baumelte eine Glühbirne an einem langen Draht. Bevor seine Augen Zeit hatten, sich an das flimmernde Licht zu gewöhnen, stieß Hans einen dreibeinigen Hocker um. Er schaute erschrocken, ob ihn jemand beobachtet hatte, stellte das wackelige Möbelstück wieder an die Wand und setzte sich. Seine Erleichterung war groß, aber gewaltig die Scham. Der redliche Deutsche Hans Dietz, der nie einen Schritt vom Weg der Aufrechten abgewichen war, verbarg sein Gesicht. Entsetzt begriff er, dass er verdammt war, für alle Zeiten zum Volk der Täter zu gehören.
Als seine Seele verbrannte, streckte er seine Arme aus und rief nach Anna. Seine Glieder waren steif wie erfrorene Äste, die Zunge geschwollen, die Lippen klebten aufeinander. Was, wenn Fannys Großmutter tatsächlich in diesem Haus der Gespenster lebte? Wie sie erkennen? Er hatte Betsy Sternberg nur wenige Male gesehen, und es war lange her. Wie ihr erklären, wer er war und was er wollte? Wie redete ein Deutscher mit einer Frau, die aus dem Konzentrationslager zurückkam? Sollte er mit Fannys Rettung beginnen, ihr von Anna, Johann Isidors mutiger Tochter, erzählen, die das Wunder vollbracht hatte? Vielleicht war es geboten, Betsy zu ihrem eigenen Überleben zu gratulieren. »Frau Sternberg, ich freue mich ja so sehr für Sie, dass Sie es geschafft haben«, flüsterte Hans. Seine Stimme ekelte ihn an, er verachtete seine Unbeholfenheit und noch mehr den nie zuvor erlebten Drang, sich ins Gesicht zu schlagen. »Verzeihung«, sagte er. So bat er den, an den er nicht glaubte, um Vergebung.
Eine Stockspitze schlug auf den Boden. Immer wieder und stets im gleichen Takt. Jeder Laut war Bedrohung. Eine Gestalt näherte sich Hans. Sie atmete schwer, keuchte, wie er gekeucht hatte. Füße in Pantoffeln schlurften den Flur entlang. War es wieder der Mann mit den Pferdeäpfeln, der Teufel, als Biedermann verkleidet?
»Suchen Sie jemanden?«, fragte die Frau. Sie schnaufte auch im Stehen. Ihr Gesicht war winzig, das graue Haar schütter und wirr, der Stock zu lang für die kurzen Arme.
»Nein«, antwortete Hans. Er konnte sein Nein nicht fassen, hatte Angst, sich lächerlich zu machen, griff sich
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