Heimkehr in Die Rothschildallee
an die Stirn. »Niemanden«, fügte er verlegen hinzu.
»Niemanden gibt es hier nicht«, sagte die Frau. Ihre Stimme war der absolute Kontrast zu ihrer Erscheinung – eine deutliche, kräftige, sympathische Berliner Stimme. Wollte die Alte einen Scherz machen? Menschen mit leblosen Augen, begriff Hans, machten keine Scherze mehr.
»Ich ruhe mich nur einen Moment aus«, stammelte er, »ich habe tatsächlich jemanden gesucht, aber ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin.«
»Wir haben ein Büro. Dort können Sie ja mal fragen. Falls Sie nicht nur die Katze antreffen.«
»Danke. Das hilft mir schon ein Stück weiter.«
»Wie kann Ihnen eine Katze weiterhelfen?« Die Frau schaute Hans strafend an, und doch schien es einen glückhaften Moment so, als hätte sie gelächelt. Ihre Augen wirkten weniger müde als zuvor, ihre Lippen hatten Farbe, sie machte eine Bewegung wie ein junges Mädchen, das nur deshalb eine Haarsträhne aus der Stirn schiebt, um Aufmerksamkeit zu erregen. »Sie und der Stuhl«, sagte die Frau, »haben zusammen vier Beine. Als Kind habe ich solche Rätsel geliebt. Meine Söhne auch. Ich musste immer neue für sie erfinden. Ich hatte, ehe ich gestorben bin, vier Söhne. Den Benny hat man mir gelassen. Ihn haben sie nicht gekriegt. Er lebt in Detroit und hat eine Frau und drei Kinder. Ich hab das erst vor vier Wochen erfahren. Ein amerikanischer Soldat brachte mir einen Brief von ihm und Fotos. Und ein ganzes Pfund Kaffee. Er hat eine wunderschöne blonde Frau. So eine hat er sich immer gewünscht. Schon als kleiner Junge wollte Benny immer nur Märchen vorgelesen haben, in denen die Frauen blond waren und lange Haare hatten. Wie Rapunzel. Nebbich, wie Rapunzel. Das muss man sich vorstellen. Haben Sie schon einmal von Detroit gehört?«
»Ja«, schwindelte Hans, »das muss eine schöne Stadt sein.« Es bewegte ihn, wie sehr es die Greisin drängte, von ihren Söhnen zu sprechen, doch es gelang ihm nicht, seinen Kopf zu heben. Er fixierte den Fußboden und zählte die Risse im Stein. Noch während die Frau von dem einen Sohn erzählte, der leben durfte, wurde ihm klar, dass es in Deutschland nie mehr so sein würde wie früher. Wer als Deutscher jüdische Menschen nach ihrer Familie und ihrer Vergangenheit fragte, riss Wunden auf, die nie verheilen würden.
»Nie«, sagte Hans.
»Was haben Sie denn?«, fragte die Frau. »Sie sehen ja aus wie Braunbier und Spucke. Das hat meine Mutter immer gesagt. Jetzt gibt es ja nur noch die Spucke.« Sie klopfte mit ihrem Stock auf dem Boden. Noch war die Neugierde in ihr, die es den Menschen möglich macht, sich an der Sonne zu freuen. »Wie haben Sie das bloß geschafft, mit einem Bein zu überleben?«
»Bei Kriegsausbruch hatte ich zwei«, sagte Hans. Er suchte nach einem Scherz, doch ihm fiel keiner ein.
Sie brauchte nicht die verlegenen Scherze der Dummköpfe, um zu verstehen. »Ach so«, erkannte sie. »Sie sind einer, der für sein Vaterland sterben durfte. Nicht einer, den sie zum Sterben ins KZ gesteckt haben. Das war ein gewaltiger Unterschied. Das können Sie mir glauben. Entschuldigen Sie, ich hab’s nicht bös gemeint. Ich bin eine alte Frau. Ich vergesse oft, dass auch andere Menschen Opfer geworden sind. Nicht nur wir.«
Der Heimweg wurde ein Kampf in einem eiskalten Dauerregen. Hans trug schwer an der Last, die er als Mutlosigkeit und Ungeschicklichkeit verkannte, statt sie als die Bürde derer zu erkennen, die an der Schuld leiden, die nicht die ihre ist. »Mir war«, gestand er Anna, »der Hals wie zugeschnürt. Ich hätte Sie doch einfach fragen können, ob sie eine Frau Sternberg kennt, aber ich hab’s nicht fertiggebracht. Dein Mann ist der größte Feigling, der in Frankfurt herumläuft. Ich könnt ihm von jetzt bis übermorgen in den Hintern treten.«
»Wehe, du sagst nur ein böses Wort über meinen Mann«, tröstete Anna. »Die Prügel verdient deine Frau. Von jetzt bis übermorgen. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass ich in die Gagernstraße gehen muss und nicht du, aber ich hatte Angst.«
»Ich bin heilfroh, dass wir wenigstens schlau genug waren, das Maul zu halten, und Fanny nichts erzählt haben. Stell dir ihre Enttäuschung vor, wenn sie auch noch den Namen falsch verstanden hat und Betsy doch nicht in der Gagernstraße wohnt.«
»Fanny ist kein Kind mehr. Wir können sie nicht vor Enttäuschungen schützen. Morgen gehen sie und ich zusammen hin. Vielleicht wird sie mich schützen müssen, wenn alles umsonst
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