Heimkehr in Die Rothschildallee
mal gerecht und hat dafür gesorgt, dass schon ein Jahr später das Gebäude schwerste Bombenschäden abbekommen hat. Ich glaub mich zu erinnern, dass es eine ganze Anzahl von Toten gegeben hat.«
»Da wird ja heute niemand dort wohnen. Wer soll denn so ein Riesenhaus in einem halben Jahr aufgebaut haben? Vielleicht sollten wir uns doch aufmachen und Fannys verflixte Magerstraße suchen gehen. Irgendwas muss sie doch gehört haben, das Sinn ergibt.«
»So sehe ich das auch«, stimmte Hans zu. »Wer nichts sucht, der findet nichts. Hat meine Großmutter immer gesagt. Und einen Mann gefunden, der ihr ein uneheliches Kind gemacht hat.«
Eineinhalb Stunden und eine Tasse Muckefuck später war er unterwegs zur Gagernstraße. »Ein Katzensprung«, machte er sich nach den ersten zehn Minuten vom Weg Mut. Es war tatsächlich nicht weit von der Thüringer Straße, doch eine quälende Strecke für einen Mann mit nur einem Bein und wenig Hoffnung, die Anstrengung würde zu einem brauchbaren Ergebnis führen. Der Tag war stürmisch, Nebel umhüllte Dächer und Schornsteine, die Luft war feucht und kalt. Ein scharfer Ostwind blies ihm ins Gesicht, die Krücken fanden auf dem nassen Boden schlecht Halt, und so brauchte Hans bereits eine halbe Stunde, ehe er die Wittelsbacherallee erreichte.
Einige von den imponierenden Bürgerhäusern hatten den Krieg überstanden. Allerdings war den ehemals großbürgerlichen Wohnungen schon von außen anzusehen, dass Zwangseinquartierungen stattgefunden hatten. Aus fast jedem Fenster ragte ein Ofenrohr, auf den meisten Schildern an den Schellen standen zwei Namen – sichere Hinweise, dass Ausgebombte und Flüchtlinge nun als ungeliebte Untermieter dort wohnten. Besser über den Krieg gekommen waren die Bäume, selbst im November und im Sturm leuchteten die Riesen noch herbstbunt und zuversichtlich. Amseln zwitscherten in den Zweigen. Vor einem schmiedeeisernen Hoftor hockten zwei Tauben.
»Ihr seid zur falschen Zeit Tauben«, belehrte sie Hans. »Früher haben wir euch mit Brot gefüttert. Heute stehen wir Gewehr bei Fuß, um euch was wegzufressen.«
Auf dem Grasstreifen, der die Allee teilte, lag eine braune Papiertüte. Hans humpelte über die Straße. Es gelang ihm, rechtzeitig eine seiner Krücken auf die trocken gebliebene Tüte zu stellen, ehe sie der Wind erfasste und weiter trieb. Er faltete seine Trophäe sorgsam zusammen und steckte sie in die Manteltasche. »Dich hätten wir, du kleine Ausreißerin«, grunzte er befriedigt. Papiertüten gab es nicht mehr, weder zu kaufen noch bei den Kolonialwarenhändlern und in den Bäckereien. Lebensmittel wurden nicht mehr verpackt. Ohne eigene Milchkannen, Henkelmänner, Zeitungspapier, Netze oder alte Tüten aus dem Bestand einkaufen zu gehen war verlorene Mühe. Noch naiver war es, Kinder, die sich noch nicht wehren konnten, zum Schlangestehen zu schicken. Den Kleinen wurden Kannen, Töpfe, Schüsseln und selbst Rexgläser ohne Deckel abgenommen, meistens samt Inhalt.
Trotz des schlechten Wetters war Hans in guter Stimmung und weniger hungrig als gewöhnlich – dank der beiden Brote, die Anna ihm aufoktroyiert hatte und von denen er vermutete, zumindest eins hätte ihr zugestanden. Sein alter Militärmantel schützte gegen Regen und Kälte. In den letzten Kriegsmonaten, als noch chemische Farben zu haben waren, hatte Anna den Mantel schwarz eingefärbt und ihm einen neuen Kragen verpasst. In der Ferne schlug eine Kirchenglocke. Schall reiste weit in der zerstörten Stadt; es war ein versöhnlicher, fast vergessener Klang. Hans grübelte, weshalb es überhaupt noch Kirchenglocken in Frankfurt gab. »Ich dachte«, murmelte er, »die Kirche hat unserem geliebten Führer alle Glocken für seinen heiligen Krieg gestiftet.« Er stellte sich den Schenkungsakt bildlich vor und lachte.
Auf der Kreuzung Wittelsbacher- und Habsburgerallee belebte sich die Szene. Ältere Männer mit Mänteln, die um ihre abgemagerten Körper wie Decken auf einer Wäscheleine schlotterten, und mit Hüten aus der Vorkriegszeit schleppten schäbige Glasfiberkoffer und mit Kohle prall gefüllte Einkaufsnetze. Ihre lebenswichtige Beute stammte von den Güterzügen, die immer kurz vor dem Ostbahnhof halten mussten, weil es Schwierigkeiten mit den Gleisen gab. Alte Frauen mit dunklen Kopftüchern und mit verhärmtem, verbittertem Gesicht zogen Bollerwagen hinter sich her. In einigen hockten kleine Kinder mit tief ins Gesicht gezogenen Strickmützen und triefenden Nasen
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