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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schwarzmarkt hatte er für ein Kilo Graupen und dreihundert Gramm Speck hergegeben. »Eine Zigarette für einen Teller Graupensuppe«, schrie er wütend in die Richtung, in die der Jeep verschwunden war, »wenn das kein Geschäft ist.« Mit seiner Krücke zerstampfte er den Rest der immer noch glühenden Zigarette. Er schämte sich seines Zorns und dafür, dass er sich nicht hatte beherrschen können.
    Die Maximilianstraße wurde wieder so still wie zuvor. In sämtlichen Wohnungen waren die Fenster geschlossen; nirgends waren, wie sonst an Sonntagen, Kirchgänger mit Gesangbuch oder die Frauen mit kleinen Eimern zu sehen, die es auf der Suche nach Beeren und essbarem Grünzeug in den Ostpark zog. Auch die Fußball spielenden Buben waren verschwunden, nur die zerbeulte Suppendose lag noch da. Hans starrte auf die Straße. Er verwünschte den Krieg, und er verwünschte sein Leben. Als er endlich den Kopf hob, stellte er fest, dass er in der Gagernstraße stand.
    Allmählich und nur weil die großen Fenster ihm vertraut vorkamen, wurde ihm bewusst, dass er vor dem ehemaligen jüdischen Krankenhaus stand. Das von Bomben schwer beschädigte Gebäude war zum Teil, wenn auch dem Mangel der Zeit entsprechend, wiederhergestellt worden. »Donnerwetter«, sagte Hans. Er hörte sich pfeifen und staunte – er hatte in seinen besten Jahren nicht pfeifen können. Die Krücke, die er mit der linken Hand hielt, geriet ins Rutschen. Mit lautem Schlag stürzte sie auf die Straße. Er hatte mehr Mühe als gewöhnlich, sie aufzuheben, und stöhnte beim Bücken. »Donnerwetter«, wunderte er sich wieder.
    »Gell, da staunst de«, sagte ein Mann »wir staune alle.«
    Hans hatte ihn nicht kommen sehen. Er mochte um die sechzig sein, trug trotz des Dauerregens keinen Mantel, nur Pullover und Schal. Der verfilzte graue Pullover war viel zu weit und an den Ellbogen mit roten Stoffflecken geflickt, der mit weißen Blüten bestickte schwarze Schal gehörte zweifelsfrei einer Frau. Zur Kniebundhose aus grünem Manchester trug der Mann Trachtenhosenträger mit einem weißen Herz in der Mitte; seine Füße steckten in kaffeebraun-weiß karierten Filzpantoffeln. In der Hand hielt er einen mit Pferdeäpfeln gefüllten Eimer, Kehrschaufel und Handfeger. Offenbar wohnte er in dem Haus, vor dem er stand.
    Einen Augenblick überlegte Hans, ob er den zudringlichen Fremden, den es unverkennbar nach einem Gespräch drängte, zu seinem Schatz befragen sollte: In kohlenknapper Zeit war nichts so gut für ein Feuer wie getrocknete Pferdeäpfel, aber die Frage, auf die er eine Antwort suchte, bedrängte ihn zu sehr. Er zeigte auf das ehemalige jüdische Krankenhaus. »Wissen Sie vielleicht, wer jetzt in dem Haus wohnt?«
    »Judde«, antwortete der Mann. »Wieder die Judde. Wer denn sonst?«
    »Was? Seit wann denn?«
    »Seit ungefähr zwei Woche. Eine ganze Menge von dene, wenn de mich fragst. Waren plötzlich da. Wie vom Himmel gefalle. Und unsereins machen se weis, die Judde hat es alle in dene Lager erwischt.«
    »Ja, ist denn das Haus wieder ein jüdisches Krankenhaus?«
    »Altersheim, hab ich gehört. Jedenfalls laufe alle, die ich bisher gesehe hab, am Stock. Aber zäh waren se ja immer. Zäh wie alte Suppenhühner. Was is denn? Is dir schlecht?«
    »Ja«, sagte Hans, »schlecht bis unter die Halskrause. Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie mir schlecht ist.« Im Moment der größten Empörung stellte er sich vor, er wäre ein Mann wie andere. Seine Lippen wurden feucht, als er sich ausmalte, er könnte sowohl den Eimer mit den Rossäpfeln umtreten als auch den Kerl in Pantoffeln, doch er sagte kein Wort. Die Augen auf das Straßenpflaster fixiert, lief er auf das Ziel zu, das er zu erreichen fürchtete.
    »Leute gibt’s«, schimpfte der Mann hinter Hans her, »die gibt’s gar nicht. Die sind mit dem Roller durch de Kinderstub’ gerast.«
    Niedergeschlagen quälte sich Hans durch den breiten Torbogen. Er dachte, was er so selten wie möglich tat, an seine Soldatenzeit in Polen. Die Erinnerung, wie er am Tag seiner Verwundung erst die Orientierung und danach die Zuversicht verloren hatte, er würde zu Anna zurückkehren, schlug auf ihn ein. Wieder brannte der alte Albtraum, er müsste in der Hölle verwesen, weil er nicht rechtzeitig Einspruch gegen sein Todesurteil eingelegt hatte. Er wusste, er würde stürzen, und er wusste, dass man ihn liegen lassen würde, bis sich sein Körper auflöste. Auf keinen Fall die Augen schließen und weiteratmen,

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