Heimkehr in Die Rothschildallee
war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mir wünsche, dass Betsy noch da ist. Ich hab schon früher die meiste Zeit vergessen, dass sie nicht meine Mutter ist.«
»Wenn ich mir das nicht vorstellen könnte, wäre ich ja zu gar nichts mehr zu gebrauchen. Was willst du Fanny denn sagen?«
»Die Wahrheit. Das sind wir ihr schuldig. Sie stammt aus einer Familie, in der man nicht gelogen hat. Ich übrigens auch, wenn du die ersten acht Jahre meines Lebens abziehst.«
Sie redeten wenig an diesem Montag der Erwartung. Anders als am Tag zuvor war das Wetter herbstwarm, das Licht hell. Die Wolken sahen aus wie Lämmer, die Pfützen wie Spiegel. Eichhörnchen brachten ihre Wintervorräte ein. Wann immer Fanny zum Himmel schaute, versprach sie Gott, nie mehr an seiner Weisheit zu zweifeln, ließe er das Wunder geschehen, um das sie täglich betete. »Meinst du, Großmutter wird mich erkennen?«, fragte sie. »Wenn es sie gibt, meine ich. Ich hab mal gelesen, man darf nie von der Zukunft sprechen. Findest du das auch?«
»Da müsstest du jemand fragen, der klug ist.«
»Mir bist du klug genug«, sagte Fanny.
Die Maximilianstraße war noch weniger belebt als am Tag zuvor. Windeln und Küchenhandtücher flatterten an Holzgestellen, die vor den Fenstern in den oberen Etagen angebracht waren. Frauen in vergilbten weißen Kittelschürzen und mit Tüchern auf dem Kopf, die zum Turban geknotet waren, schauten zum Fenster hinaus und starrten ins Leere. Ihre Arme hatten sie auf Kissen gebettet.
»Genau wie früher«, sagte Anna. »Dein Onkel Erwin konnte solche Frauen nicht ausstehen. Glotzziegen hat er sie genannt. Komm, wir haben es geschafft. Da ist schon das Altersheim.«
»Ich hab plötzlich Angst«, sagte Fanny.
»Ich auch. Aber nicht plötzlich. Komm, wir sind ja zu zweit. Uns kann nichts passieren. Gar nichts.«
»Das hast du mir schon einmal gesagt, Anna.«
»Wann?«
»Als du mir den Mantel mit dem gelben Stern ausgezogen hast.«
»Das hast du nicht vergessen? Nach all der Zeit!«
»Nein.«
Sie hielten einander an der Hand wie Kinder, die auf einer Sommerwiese toben, doch sie lachten nicht. Zu groß war die Furcht, das Schicksal könnte es schlecht mit ihnen meinen. Im Garten war Leben, der Rasen frisch getränkt vom Regen. Die Schafe standen dicht beieinander, ihre Körper sahen aus, als wären sie zusammengewachsen.
»Von den Schafen hat Hans mir erzählt. Weißt du, er war gestern schon mal hier.«
»Ich weiß«, sagte Fanny, »seitdem der Krieg vorbei ist, flüstert ihr nicht leise genug.«
Dunkel gekleidete Frauen, in Decken gehüllt, und ein alter Mann, der mit seinem Stock Löcher in die Erde grub, saßen auf den Bänken, die um das Gras standen. Es war ein friedliches, tröstendes Bild, obgleich sich die Frauen im befehlenden Ton von Schwerhörigen unterhielten. Eine alte Frau, auffallend groß, sehr abgemagert und mit rotem Gesicht, stand auf. »Nein, ich täusche mich nicht. Ich werde ihn bis zum Ende meiner Tage sehen«, erklärte sie. »Er war der beste Freund meines Sohns. Von Anfang an. Falk hieß er. Falk von Wangenheim. Er war zwölf Jahre alt und der höflichste Junge, der mir je begegnet ist. Und dann hat er in der Kristallnacht vor meinen Augen die Schublade mit dem Silberbesteck aus unserer Wohnung geschleppt und meinem Buben in den Leib getreten. In diesem Augenblick habe ich gewusst, dass es für uns keine Hoffnung mehr gab.«
»Schau mal«, flüsterte Anna, »die Frau dort auf der Bank. Die, die ganz allein sitzt und liest. Mein Gott, lass mich recht haben. Nur dieses eine Mal. Sie hat immer gelesen.«
Ihr Körper spannte sich, sie zerquetschte Fannys Hand und hetzte mit ihr los, denn sie wusste, dass sie ins Ziel lief. »Komm, Fanny, es ist geschehen.«
Betsy schaute erst hoch, als sie die beiden atmen hörte. Eine Ewigkeit lang glaubte sie, es wäre der Wind, den sie hörte, doch sie ging auf sein Spiel ein und legte das Buch auf die Bank. Ihr Körper erstarrte. War es Freude, war es Schock oder war es der Tod? Die Augen glaubten nicht, was sie sahen, und doch breitete Betsy ihre Arme aus. Sie umklammerte Anna und Fanny, roch deren Haut und fühlte deren Jubel, und sie war betäubt von einem Glück, für das es keine Worte gab. Das Buch fiel auf die Erde; es lag offen da, der Wind blätterte in den Seiten und erzählte im Himmel wundersame Geschichten. Die übrigen Bänke waren verlassen, nur eine graue Decke lag noch da. Die Schafe blökten mit erhobenem Kopf. Im ersten
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