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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Sicherheit verlor Betsy erst, als sie im düsteren Hausflur stand und im Parterre drei geschlossene Türen entdeckte, jede mit einem kleinen, handgeschriebenen Schild beklebt. Zu sehen war niemand. Der Wind stieß ein Fenster auf. Betsy stellte sich auf die Zehenspitzen, machte es zu und rief so laut, wie sie sich getraute: »Hallo! Ist da jemand?«, doch niemand gab ihr Antwort.
    Weil sie ein Klappern hörte, das sie als das Geräusch einer Schreibmaschine deutete, ging sie die steile Treppe nach oben. Eine von vier Türen stand offen. Betsy schaute in einen kleinen Raum, der offenbar ungeheizt war, denn auf dem Ofenrohr hingen Küchentücher und ein dunkelgrüner Männerpullover. Eine Stehlampe mit einer einzigen Birne und einem grünen Glasschirm, der den größten Teil des Lichts schluckte, war die einzige Leuchtquelle. An einem mit Wachstuch überzogenen großen Tisch saß ein grauhaariger, bärtiger Mann in Mantel, Schal und Hut. Er stapelte Akten aufeinander, die er stöhnend vom Boden aufhob, und brabbelte fortwährend vor sich hin. Betsy versuchte herauszuhören, ob er Deutsch, Jiddisch oder Polnisch sprach. Auch Tschechisch erschien ihr möglich – seit Theresienstadt hatte sie ein Ohr fürs Tschechische. Auf einem dicken Buch mit blauem Einband war ein graufarbener Becher abgestellt, der genauso aussah wie der auf dem Polizeirevier.
    »Nein«, wehrte sich Betsy, »nicht wieder. Das kann ich nicht.« Sie begriff, dass es ihre Panik war, die Bilder und Emotionen verzerrte, doch es gelang ihr nicht mehr, aus der Hölle der Gewalt zu fliehen. Der Becher wurde zu einer mit Nägeln gespickten Keule, die Wand hinter dem Tisch wankte. Sturmstimmen brüllten Befehle, der Himmel brannte. Als Erstes starben die Kinder.
    Betsy wurde taub und stumm und blind; noch aber wusste sie, dass es wichtig war, sich zu erinnern, was sie vorgehabt hatte, doch ihr Gedächtnis lief gegen die Mauern von Theresienstadt und versiegte. Sie suchte die Tür, durch die sie gekommen war, wollte sich entschuldigen und den Raum verlassen. Ihre Arme waren brettsteif, die Füße am Boden festgewachsen.
    Der Mann schaute hoch. »Nu«, sagte er.
    Diese schwingende, vertraute Silbe, ein Wort der Vergangenheit, lange nicht mehr gehört und nie vergessen. Johann Isidor hatte bei schwierigen Verhandlungen das fragende, von Nichtjuden häufig missdeutete Nu gebraucht, um dem Gesprächspartner Bedenkzeit zu gewähren und sich selbst zu besinnen. Betsy presste ihre Hände aneinander, sie spürte wieder Leben, war erlöst, atmete ohne Schmerz und Anstrengung. Den Mann, der sie mit seinem Nu von den Toten zurückgeholt hatte, schaute sie an, als wäre nichts mit ihr geschehen. »Ich bin gekommen, um meine Enkeltochter bei der Gemeinde anzumelden«, sagte sie.
    Er nahm seinen Schal ab, knöpfte den Mantel auf, begann wieder nicht zu Verstehendes zu murmeln und fasste sich an die Stirn. »Ist sie denn jüdisch?«, fragte er.
    »Wer?«
    »Na, die Enkeltochter. Sprechen wir hier von Roosevelt oder von Moses?«
    »Würde ich meine Fanny hier anmelden, wenn sie nicht jüdisch wäre? Finden Sie es denn ein Vergnügen, jüdisch zu sein?«
    »Mich hat keiner gefragt, wie ich’s finde.«
    »Ich und meine Enkelin sind auch nicht gefragt worden.«
    Der Mann hatte im Oberkiefer nur zwei Zähne, die unteren waren schwarze Stumpen. Seine Augen berichteten von Erlebnissen, die sich der Sprache verweigerten. Trotzdem schien es Betsy, als hätte er gelächelt. »In Frankfurt«, erklärte er, »gibt es Juden, und es gibt Milchbüchsenjuden. Vor Milchbüchsenjuden muss sich die Gemeinde hüten. Sie sind wie Blutegel. Blutegel mit Zähnen.«
    »Was in aller Welt ist ein Milchbüchsenjude?«
    »Sagen Sie nur, das wissen Sie nicht? Wo kommen Sie denn her? Ein Milchbüchsenjude hat erst gemerkt, dass er Jude ist, nachdem ihm ein anderer Milchbüchsenjude erzählt hat, dass es bei der Jüdischen Gemeinde Frankfurt ab und zu eine Sonderzuteilung gibt. Meistens eine Spende von den Amerikanern. Zu Chanukka haben die einen ganzen Sack von Geschenkpaketen hier angeschleppt, und keine acht Tage später haben sich eine Menge Leute erinnert, dass sie zu Pessach immer Matze gegessen und die Nazis vom ersten Augenblick an gehasst haben. Sie haben alle versucht, die brennenden Synagogen zu löschen, und alle sind sie von guten Deutschen in Gartenlauben versteckt worden. Jetzt danken sie Gott auf den Knien, dass sie endlich wieder jüdisch sein dürfen. Wie soll ich wissen, ob Ihre

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