Heimkehr in Die Rothschildallee
Flüssigkeit und hauchte mehrere Male auf ein eingetrocknetes Stempelkissen. Aus einer Schublade holte er eine auffallend dicke Akte, machte Anstalten, in ihr zu blättern, klappte sie aber wieder zu und schüttelte erneut den Kopf – nicht so heftig wie zuvor, eher beschwörend und verlegen. »So hab ich’s doch nicht gemeint«, stellte er klar. »Kein bisschen. Ich bin froh, dass wir eine Demokratie haben. Und beleidigen habe ich Sie erst recht nicht wollen.«
»Es wäre Ihnen nicht gelungen, mich zu beleidigen«, versicherte Betsy. »Zum Beleidigen gehören nämlich zwei: einer, der beleidigt, und einer der sich beleidigen lässt.«
Der verlegene Ton des Mannes tat ihr wohl. Sie sah, dass seine Lider flatterten und er blass geworden war. Das Gefühl, dass ein deutscher Beamter an seinem Schreibtisch saß, Angst vor ihr hatte und sie nicht vor ihm, belebte sie, machte sie stark, auf eine beängstigende Weise sogar verwegen. Selbst die Erkenntnis, dass auch Menschen zu Sadismus fähig sind, die Bosheit und Brutalität verabscheuen, beunruhigte sie nicht. Es war die Erinnerung an das, was geschehen war, die Betsy freisprach. Sie dachte an das Jahr 1938, als Juden in deutschen Amtsstuben schikaniert, gedemütigt und gequält worden waren. Johann Isidor Sternberg, der Furchtlose und Unbeugsame, hatte sich nicht getraut, die Familie im »Judenhaus« anzumelden. Betsy war es, die damals zum Polizeirevier gegangen war. Sie hatte drei Stunden auf dem Flur stehen müssen, und wen immer sie nach einer Toilette gefragt hatte, war wortlos weitergegangen. Der junge Uniformierte mit Rechtsscheitel und Schnurrbart wie sein Führer, der die Ummeldung endlich vorgenommen hatte, hatte Betsy geduzt und sich, mit einem Taschentuch vor Mund und Nase, bei seinem Kollegen beschwert: »Die Schlampe stinkt zehn Meter gegen den Wind nach Zwiebeln.«
»Das tun sie doch alle. Das steht schon bei Wilhelm Busch. Die Zwiebel ist des Juden Speise.«
»Ich kann noch mehr. Kennst du das, Sara? Und der Jud’ mit krummer Ferse, krummer Nas’ und krummer Hos’ schlängelt sich zur hohen Börse, tief verderbt und seelenlos.«
»Vielleicht können Sie mir die Adresse der Jüdischen Gemeinde geben«, sagte Betsy. Weder Stimme, Gesicht noch Hände deuteten darauf hin, dass sie den Weg zu den Gespenstern zurückgegangen war, Gespenstern, die nie aufhören würden, sie zu peinigen. »Die Gemeinde muss hier ganz in der Nähe sein«, sprach sie weiter. »Oder habe ich die Anschrift anderswo zu erfragen? Vielleicht beim Bestattungsamt. Oder beim Gartenamt? Eine ganze Menge von uns war ja zur Zwangsarbeit auf den Friedhöfen verpflichtet, ehe man uns auf die Reise schickte. Die letzte Reise.«
Sie sah den Herrscher am Schreibtisch wie eine Marionette einknicken, bei der ein Faden gerissen ist. Er umklammerte seinen Becher, die Knöchel wurden weiß. »Jüdische Gemeinde«, wiederholte er. Zwischen dem ersten und dem zweiten Wort atmete er ein. Seine Oberlippe zitterte. Er starrte Betsy an, als hätte sie ihn von hinten angesprungen und würde ihn mit einer Waffe bedrohen. Einen Moment lang war sie gar sicher, der Mann hätte sich weggeduckt und würde versuchen, sein Gesicht mit den Händen zu schützen. Ihre Fantasie hielt sie in der Welt fest, in der es nur Rache und Niederträchtigkeit gab und in der auch Menschen zu Monstern wurden, die an Gott glaubten, ihre Kinder liebten und abends gestickte Deckchen über den Vogelkäfig hingen. Betsy spürte den Druck im Kopf, der Tränen vorausging. Ihre Rachegelüste beschämten sie, und doch ließ das Verlangen nicht nach, weiter nach dem Mann zu treten, der am Boden lag und sich nicht wehren konnte. Nicht wehren durfte. Nicht mehr. Würde sie fortan immer vom Zwang besessen sein, Menschen die Angst einzujagen, die sie selbst hatte erdulden müssen?
»Können Sie mir sagen, wo hier die Toilette ist«, bat sie.
»Für Damen im ersten Stock, zweite Tür links«, antwortete ihr Opfer. Er ließ den Becher los, schob ihn zum Rand des Schreibtischs, suchte Halt bei einer rostigen Schere.
»Danke. Es muss nicht gleich sein. Ich wollt’s nur wissen. Für alle Fälle. Ich nehme an, die Toiletten sind für alle zugänglich.«
»Nur für Besucher des Hauses«, betonte der Korrekte, »nicht für Fremdpersonen.« Er blätterte in einem handschriftlich beschriebenen Heft, in dem jede Zeile mit Rotstift unterstrichen war. Das Heft erinnerte Betsy an die Kladde, in der Oberlehrer Gotthold Grundig aus Pforzheim die
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