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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Verfehlungen und Missetaten von sechsjährigen Kindern eingetragen hatte. Das Wiedersehen mit Oberlehrer Grundig verwirrte sie über alle Maßen. Es war das erste Mal in achtundsechzig Jahren, dass Grundig sich in ihr Leben drängte. Er war ein Hüne mit Goldzahn und Monokel gewesen, hatte einen Oberlippenbart wie Kaiser Wilhelm II. gehabt und einen Rohrstock mit blutrotem Griff. »Hand aufs Pult«, befahl Gottfried Wilhelm Grundig, »ausgestreckt!« Seine Stimme war immer noch donnerlaut, und wenn er schrie, wurde sein Kaiserbart regennass und Hass verbrannte sein Gesicht.
    »Hier haben wir’s«, sagte der Beamte, »Baumweg 5 bis 7.«
    »Wie bitte?«, fragte Betsy.
    »Die Juddegemeinde. Sie haben doch gesagt, dass Sie die Adresse haben wollen. Hier steht allerdings jüdische Hilfsstelle. Na ja, geholfen wird uns ja allen, sag ich immer. Fragt sich nur, wann und von wem.«
    Betsy, die Bescheinigung in der Handtasche, dass sie sich von der Gagernstraße 36 in die Thüringer Straße 11 umgemeldet hatte, erreichte nach nur einer Viertelstunde den Baumweg. Sie erinnerte sich sofort an die kurze Straße; bei einem Gemüsehändler an der Ecke zum Sandweg hatte sie vierzig Jahre lang Frühkartoffeln und die ersten Erdbeeren aus Kronberg gekauft. Im Gegensatz zum Gemüseladen war die Linde noch da, die besonders früh und besonders üppig geblüht hatte. In der Freude, dass dem Baum im Krieg kein Leid widerfahren war, unterließ es Betsy, ihr Herz zu schützen. Sie sah sich mit dem noch nicht einmal vierjährigen Otto, damals noch umhätscheltes Einzelkind und schon Thronfolger mit Klassenbewusstsein, zur Berger Straße laufen, um den Karpfen für die hohen Feiertage zu holen. Es war das letzte Rosch Haschana im 19. Jahrhundert. Otto hatte seinen ersten Matrosenanzug bekommen; die Mütze durfte er bereits in der Woche vor den Feiertagen tragen. »Otto, heb deine Füße beim Laufen. Du willst doch ein ordentlicher Soldat werden. Der Kaiser ist ganz traurig, wenn du mit den Füßen schlurfst.«
    Im Baumweg hatten die Häuser, die den Krieg überstanden hatten, stark beschädigte Dächer und Mauern, von denen der Putz bröckelte. Die Fenster waren nur notdürftig repariert, in manchen Vorgärten lag noch Schutt, in einem zwei Gartenzwerge ohne Kopf. Die Litfaßsäule aber, vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber einer Schreinerei aufgestellt, war unversehrt und so beklebt wie in Zeiten des Wohlstands. Auffallend war ein Plakat, das eine ausgebombte Kirche zeigte. »Alle Kirchen sind vernichtet, das hat Hitler angerichtet«, stand unter dem Bild.
    »Nicht nur die Kirchen!«, entfuhr es Betsy.
    Eine alte Frau in einem schwarzen Mantel und mit einem Kopftuch, das noch in der januarkalten Luft nach Mottenpulver roch, stellte ächzend ihre Tasche auf den Boden. Sie stützte sich auf ihren Krückstock und nickte.
    »Zunächst haben sie die Synagogen niedergebrannt«, sagte Betsy. »Die zerstörten Kirchen sind nur die Quittung. Gottes Strafe, könnte man sagen.«
    »Davon weiß ich nichts«, murmelte die Frau. »Für die Politik hab ich mich nie interessiert. Ich hab fünf Kinder gehabt und einen Mann mit Staublunge. Da hat man keine Zeit, in die Kirche zu gehen. Mein Gustav hat immer gesagt, Gott braucht uns nicht.«
    Sie starrte Betsy wütend an, griff nach ihrer Tasche und humpelte weg.
    Das Haus im Baumweg hatte zwei Stockwerke und graue Mauern, zwischen Tor und Haustür war ein langer Gang, der in einen Hinterhof führte. Die Kriegsschäden waren nicht zu übersehen, doch das Gebäude war auf dem Weg in den Frieden – fast jedes Fenster schon mit Glas, an einigen waren graue Gardinen angebracht und die Rahmen gestrichen. Auf einem kleinen Metallschild, am schwarzen Eisenzaun mit Draht befestigt, stand »Jüdische Gemeinde. Hilfsstelle. Besuch nur nach Vereinbarung«.
    »Nicht mit mir«, sagte Betsy. »Ich hab genug Besuche in meinem Leben vereinbart.« Sie war betreten, als sie sich reden hörte, überlegte, ob sie lediglich erschöpft war oder bereits in dem Alter, in dem alte Menschen Selbstgespräche führen, weil ihnen keiner mehr zuhört. »Vorübergehend altersgemäß erschöpft«, entschied sie, »noch nicht meschugge.«
    Die Ironie, die Pointe, dass sie sich nun bewusst für das Selbstgespräch entschieden hatte, und das vertraute Wort »meschugge« aus der erschlagenen Zeit belebten sie. Sie ging auf die Haustür zu, merkte, dass die nicht ins Schloss gefallen war, und stieß energisch gegen das dünne Holz. Ihre

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