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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Rothschild und entsprechend vermögend, von ihren Schicksalsgenossen im Altersheim. Mit dem Koffer in Erwins Bollerwagen und Anna als Stütze auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt lief Betsy kräftigen Schrittes und berührten Herzens auf die Thüringer Straße 11 zu. Eisblumen glitzerten an den Fensterscheiben, Reif lag auf den Bäumen und auf den letzten Rosenkohlpflanzen in den Vorgärten. An einer kleinen Tanne vor einem heil gebliebenen Haus flatterten Lamettafäden.
    »Ich möchte bloß wissen, wo die das Zeug herhaben.«
    »Den ganzen Krieg über gehütet«, mutmaßte Betsy, »so wie ich meine Kopfbilder. Warum ist Fanny nicht mitgekommen?«
    »Sie putzt zum zigsten Mal Erwins Zimmer, in dem du ja jetzt schlafen wirst.«
    »Und was sagt Erwin dazu, dass er durch eine alte Frau vertrieben wird, die ihm seine Eltern als Oma andrehen?«
    »Nichts. Seine Schwester hat ihn gut erzogen. Außerdem nörgeln Kriegskinder nicht so viel wie wir früher.«
    »Du hast nie genörgelt, Anna. Das haben die anderen für dich besorgt. Die haben aus dem Vollen geschöpft, wenn ihnen was gegen den Strich ging. Ist Fanny immer so fleißig und genau?«
    Fanny scheuerte keine Fußböden, sie klopfte weder Bettvorleger noch Kissen aus. Sie saß am Küchentisch, lutschte einen gelben Knopf, von dem sie sich vorstellte, er wäre ein Zitronenbonbon, und bemalte ein Stück Pappe, das ihr Hans in allerletzter Stunde verschafft hatte, mit Primeln, Rosen und Vergissmeinnicht. In roter Blockschrift schrieb sie: »Willkommen zu Hause, Betsy Sternberg!« Das Ausrufezeichen war tintenblau. Obendrauf saß eine Schwalbe mit einem Brief im Schnabel. In ihrer Aufregung war der eifrigen Gestalterin entfallen, dass ihre Großmutter ein getrübtes Verhältnis zu jungen Menschen hatte, die sich mit Farbstift und Pinsel ausdrückten.
    »Darf ich das Schild behalten?«, fragte Betsy dennoch. Sekunden später verdoppelte sie gar Lob und Herzenswärme; sie zwinkerte Fanny zu.
    Mit dem Auszug aus dem Altersheim wurde sie die, die sie gewesen war. Wenn sie lachte, schämte sie sich nicht ihrer Heiterkeit, sie konnte an die Zukunft denken, ohne sich zu ängstigen, sie würde das Schicksal herausfordern. In guten Momenten war sie sicher, sie würde bald von Erwin und Clara hören und Alice würde aus Südafrika schreiben. In Tagträumen sah sie Claudette, die ihren Großvater »Opa Bär« genannt hatte, Orangen in Palästina pflücken. Nachts aber betete sie um das Wunder, Fannys Vater hätte in Holland überlebt. »Wenn wir nicht bald was von ihm hören«, sagte sie zu Hans, »ist es vorbei mit der Hoffnung.«
    »Ich wollt, ich könnte dir widersprechen.«
    Am 7. Januar, es war der erste Montag im Jahr, verließ Betsy die Wohnung morgens um acht. Auf dem gleichen Polizeirevier, in dem sie im Jahr 1938 hatte melden müssen, dass die Familie Sternberg nicht mehr in ihrem eigenen Haus in der Rothschildallee 9 wohnhaft war, gab sie nun ihre neue Adresse an. »Als Untermieterin bei meinem Schwiegersohn Hans Dietz«, sagte sie.
    »Das gehört nicht hierher«, knurrte der Beamte, »wir sind nicht das Standesamt.« Er lutschte an einer Brotrinde, denn er hatte seit Wochen Schwierigkeiten mit seiner Prothese und keine geeignete Tauschware, um den Zahnarzt an seine Pflicht zur Hilfe zu erinnern. »Das gehört nicht hierher«, wiederholte er.
    »Für mich schon«, betonte Betsy.
    Der Mann in Uniform starrte auf seinen tintenbefleckten Schreibtisch; sein Gesicht zeigte an, dass Privatgespräche nicht erwünscht waren. Trotzdem fragte Betsy nach Fräulein Josepha Krause. Die hätte bis zum Jahr 1938 in der Rothschildallee 9 gewohnt. Der Befragte fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. Er schüttelte den Kopf und zeigte Zahnfleisch. »Wenn Sie Auskunft über lebende Personen zu erhalten wünschen, müssen Sie sich zum Einwohnermeldeamt begeben«, kaute er.
    »Ich hab gedacht …«, wagte es Betsy.
    »Wenn die Leut nur nicht so viel denken würden. Dann könnt unsereiner in Ruhe arbeiten. Warum muss heutzutage jeder auch noch betonen, dass er denkt?«
    »In einer Demokratie steht Denken nicht unter Strafe.«
    Es verblüffte Betsy, dass ausgerechnet sie das gesagt hatte. Gewöhnlich taten das Leute, die die Demokratie für ihre missliche Lage verantwortlich machten. Der Beamte stierte vor sich hin. Sein Gesicht war rot, die Augen ohne Leben. Er stopfte den Rest der Brotrinde in seine Jackentasche, stellte die vielen Stempel um einen Blechbecher mit einer kaffeebraunen

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