Heimkehr in Die Rothschildallee
Enkeltochter nicht auch erst vor einer Woche jüdisch geworden ist?«
»Wir hatten Pech. Wir waren von Anfang an jüdisch. Mein Mann, meine Tochter und mein Enkelsohn sind in Theresienstadt umgekommen. Und die Mutter von meinem Schwiegersohn. Meine beiden Schwestern sind in Südfrankreich verhungert. Nur ich hab überleben müssen. Und eben meine Enkeltochter. Fanny ist in der Nazizeit tatsächlich versteckt worden. Von Menschen, für die das Wort gut eine Untertreibung ist.«
»Meine Enkelkinder hat keiner versteckt. Ich hatte fünf. Nein, fünfdreiviertel. Meine Tochter war im siebten Monat schwanger. Nur meine Frau hat Glück gehabt.«
»Gott sei Dank. Wo hat Ihre Frau denn überlebt?«
»Auf dem Friedhof in der Eckenheimer Landstraße. Sie ist 1936 gestorben.«
»Entschuldigen Sie, dass ich so dumm gefragt habe.«
»Haben Sie nicht. Mir tut’s gut, mit einem Menschen zu reden, dem ich nichts erklären muss. Erklärungen sind wie Messer, die man sich ins Fleisch stößt. Schauen Sie, da! Ich sag’s ja, auch bei uns gibt’s gute preußische Ordnung. Frau Betsy Sternberg geborene Strauß wird seit Juni 1945 als Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt geführt.«
»Seit 1894«, sagte Betsy, »da habe ich geheiratet und bin von Pforzheim nach Frankfurt gezogen.«
Sie zeigte dem Mann ein Foto von Johann Isidor, ein kleines vergilbtes Bild. »Das Foto ist ein Gottesgeschenk«, erzählte Betsy, »meine Tochter Anna hat es die ganze Zeit in einem französischen Lexikon versteckt. Dabei kann keiner in der Familie Französisch.«
»Sie haben Glück. Meine Familienbilder muss ich alle im Kopf tragen.«
Als der alte Mann Fanny Mathilde Feuereisen als Gemeindemitglied eintrug, sah Betsy die eintätowierte Häftlingsnummer von Auschwitz auf seinem Arm. Sie spürte ein starkes Bedürfnis, ihm etwas zu sagen, das der Situation angemessen gewesen wäre, doch jedes Wort, das ihr in den Sinn kam, erschien ihr blasphemisch. »Wenn Anfragen oder Suchanzeigen bei der Gemeinde eintreffen«, fragte sie, »werden die auch beantwortet?«
»Natürlich. Was denken Sie, was ich den ganzen Tag hier mache? Ich schreib den Leuten, dass Gott leider keine Gelegenheit hatte, Wunder zu tun.«
»Fannys Vater ist ganz früh nach Holland emigriert. Auch wir klammern uns an die Hoffnung, dass ein Wunder geschieht und wir ihn wiedersehen.«
»Ich hab gehört, Holland ist nicht das Land gewesen, in dem Wunder an den Juden geschehen sind.«
Dennoch wurde der 10. März, ein sonniger Sonntag, ein Wundertag. Mittags um zwei stand Sophie auf der Straße und erklärte ihrem Bären das Leben. Vor den beiden bremste ein Jeep. Dem entstieg ein baumlanger Soldat schwarzer Hautfarbe, auf dem Kopf ein Stahlhelm und in der Hand ein Paket, das Sophie größer als alle Pakete erschien, die sie in ihrem viereinhalbjährigen Leben gesehen hatte. Der Riese in Uniform lachte gewitterlaut, er holte einen Zettel aus der Hosentasche, zeigte ihn Sophie und fragte nach »Dietz«, wobei das Wort in seiner Kehle erstickte und Sophie ihren Namen nicht erkannte. Obwohl sie nur »Candy«, »Cookies«, »Chesterfield« und »Thank you« sagen konnte und er auf Deutsch nur »Frollein«, führte ihn Sophie zum Haus Nummer 11 und klingelte so anhaltend, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Verlegen, verwirrt und stumm standen Anna und Hans, Betsy und Fanny um den behelmten Hünen. Erst sagte er »Hi«, dann »From Frizzie«. Er stellte das Paket, verschnürt mit einer wunderbar festen Schnur, wie es sie in Deutschland schon lange nicht mehr gab, auf den Boden, schaute jeden der Anwesenden an – Fanny in ihrem zu engen Pullover aufmerksamer als die übrigen –, steckte Sophie ein Päckchen Kaugummi in die erwartungsvoll geöffnete Hand und ging, weil sich immer noch niemand zu rühren wagte, unbegleitet zur Tür. »Wer ist Frizzie?«, rief Hans durch das eilig aufgerissene Fenster, doch da fuhr der Jeep schon ab.
Anna, die Familie im Gänsemarsch hinter ihr, trug das Paket in die Küche, packte es aus, ohne dass einer ein Wort wagte, und stellte die Schätze auf den Küchentisch: Kaffee, Eipulver in einer gelben, Milchpulver in einer weißen Dose, Corned Beef, Butter, Schweinefleisch, Speck, Haferflocken, Kakao, Backpflaumen, Puddingpulver und Ananas in Dosen. Zwei Stangen »Camel« tauchten auf. Hans fand seine Zunge und sagte, die Zigaretten würden reichen, um Brot für ein Jahr zu beschaffen.
»Und Schuhe für Sophie«, träumte Anna.
Sie holte zwei Pfund
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