Heimkehr in Die Rothschildallee
einander zu, denn sie waren ohne Furcht. Obwohl sie es noch nicht wussten, war dies der Moment, da Vater und Tochter endgültig zueinander fanden. »Wenn wir Philemon und Baucis wären, würden wir jetzt zu einem Baum zusammenwachsen«, sagte Fritz.
»Woher kennst du denn so viele Leute? Ich denke, du hast auch versteckt leben müssen und konntest nur bei Dunkelheit auf die Straße?«
»Von wem magst du deinen Humor haben? Von deinen Eltern bestimmt nicht.«
»Großmutter sagt, von meinem Onkel Erwin. Hast du Erwin gekannt?«
»Natürlich! Es war Sympathie auf den ersten Blick. Mehr als das. Wenn ich noch einen Wunsch bei Gott frei hätte, jetzt wo ich dich wiederhabe, würde ich mir wünschen, dass ich Erwin in diesem Leben noch einmal sehe. Hoffentlich kalkuliert der Allmächtige ein, dass es rationell wäre, das Tempo seiner Wunder ein klein wenig zu beschleunigen. Jedenfalls, was Friedrich Feuereisen betrifft. Der ist nämlich schon sechsundvierzig.«
»Ist das viel oder wenig bei einem Mann?«.
»Sechsundvierzig ist eine winzige Einheit von Zeit, wenn du an Methusalem denkst und in welchen Alter Abraham seinen Sohn gezeugt hat, aber sechsundvierzig ist ein gewaltiger Brocken, wenn du dir klarmachst, dass ich ganz von vorn anfangen muss.«
»Ich glaub, du hast auch Humor«, sagte Fanny.
Sie trug ein blau-weiß kariertes Kleid mit einem schwingenden Rock, eng anliegendem Oberteil, rosa leuchtenden Perlmuttknöpfen und Spitzen um den Kragen. Zur Maienkönigin fehlten ihr nur eine Blumenkrone und das Selbstbewusstsein derer, die nicht im Schatten aufgewachsen sind. Anna hatte das Kleid aus einem Bettbezug von vorkriegsmäßiger Qualität genäht, die Knöpfe und die Brüsseler Spitze stammten noch aus der Posamenterie Sternberg in der Hasengasse und hatten den Krieg in Erwartung modisch guter Zeiten in einer Teedose verbracht. Das Modell hatte Anna in einer amerikanischen Frauenillustrierten gefunden, die Hans aus dem Verlag mitgebracht hatte, weil das Blatt sich hauptsächlich mit Mode für Backfische beschäftigte – in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten wurden sie Teenager oder Bobbysoxer genannt, trugen weiße Söckchen und sahen trotz Lippenstift und Rouge immer noch aus wie in den Dreißigerjahren der Kinderstar Shirley Temple mit den Ringellocken und den Grübchen.
Fräulein Feuereisen aus Frankfurt am Main hatte ebenfalls Grübchen, wenn sie lachte. Nur hatte das vor ihrem Vater keiner bemerkt. War Fanny in guter Stimmung oder verwandelte sie gar die Freude der Unbeschwerten in das Kind, das sie nicht hatte sein dürfen, funkelten die Sterne in den schönen Katzenaugen, die Fritz acht verzweifelte Jahre in seinen Albträumen hatte lodern sehen.
»Ich hab nie gedacht, dass Beten sich lohnt«, erklärte die Philosophin im neuen Kleid.
»Beten hält die Welt zusammen. Man muss nur glauben können.«
Arm in Arm spazierten Vater und Tochter um den Teich im Zoo und freuten sich an einem Entenpaar, das seine Gemeinsamkeit genoss und nichts von Bezugsscheinen für Kleider oder von Brotmarken wusste. »Ich hab nur gebetet, weil Hans immer sagt, man soll keine Gelegenheit auslassen, um sich im Himmel in Erinnerung zu bringen. Dabei betet er selbst nie. Er sagt, ein Katholik mit nur einem Bein braucht nicht zu beten, weil er sich ja nicht hinknien kann.«
»Das nennen die Juristen einen Dispens. Dein Ziehvater ist ein kluger Mann, Fanny.«
»Ist er. Klug, gerecht und geduldig. Ich habe ihn nie wütend gesehen. Nicht mit Anna und nicht mit uns Kindern. Man kann wunderbar mit ihm lachen, selbst dann, wenn’s nichts zu lachen gibt. Er sagt immer, er sei froh, dass er nur sein Bein hat hergeben müssen und nicht sein Lachen. Ich habe Hans schon als Kind bewundert, aber mein Ziehvater ist er nicht. Nicht mehr. Ich habe nämlich wieder einen richtigen Vater, Herr Feuereisen. Bitte merken Sie sich das. Pardon, Herr Doktor Feuereisen. Großmutter sagt, den Doktor darf man nie weglassen. Für seinen Doktor hat der Herr Doktor was leisten müssen, sagt sie.«
In dem Augenblick, da sich der Himmel schwarz färbte, hörte Fritz Adelheids tiefe Stimme. Er sah auch ihr Gesicht und dass ihr Haar dicht und blond war. Entsetzt schloss er die Augen, doch zur Flucht war es zu spät. Schon beugte sich die Königin der Nacht über ihn und fragte: »Wer ist Salo?« Ihre Hände dufteten nach Rosen, ihr schwarzer Seidenmantel klaffte über der nackten Brust, das Orchester spielte die Ouvertüre zur »Zauberflöte«.
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