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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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passiert.«
    »Dann wird’s höchste Zeit, Madam.«
    Buben in kurzen Hosen aus umgefärbten Uniformen und mit Hemden, die ihre Mütter aus Küchenhandtüchern geschneidert hatten, trugen Schuhe mit abgeschnittenen Spitzen und offenen Fersen, damit sie überhaupt hineinpassten. Ihre Suppen wurden aus Brennnesseln gekocht, sie klauten Kohlen von Lastwagen und Eisenbahnwaggons und stahlen Greisinnen die Lebensmittelkarten aus der Handtasche, doch sie glaubten an Gott und dass ihre in Russland vermissten Väter eines Tages an der Wohnungstür stehen würden.
    An der rußschwarzen Mauer eines Wasserhäuschens, in dem es ursprünglich bunte Brause, Lakritzschlangen und Negerküsse, Sahnebonbons und Bier in Flaschen zu kaufen gegeben hatte, klebte ein großes Plakat mit dem mahnenden Text »Bauer, denk an die Not in der Stadt«. Ein Mann mit Schmerbauch, Hut, Lederweste und festen Stiefeln rauchte genussvoll eine lange Pfeife. Ein putziges kleines Mädchen, wie Rotkäppchen gekleidet und mit den gesunden runden Backen, die man den immer satten Bauernkindern nachsagte, biss in ein dick bestrichenes Butterbrot. Im Vordergrund stand die ausgehungerte Stadtbevölkerung Schlange vor einem Bäckerladen in einem Trümmerhaus.
    »Komisch, die Deutschen glauben immer noch, an Plakaten könnte die Welt genesen«, stellte Fritz fest. »Das war im Ersten Weltkrieg schon so. Ich konnte mich als Schüler gar nicht satt lesen an den Dingern. Ein Plakat in gotischer Schrift klebte an einer Litfaßsäule, an der ich jeden Tag auf meinem Schulweg vorbeikam. ›Fort mit dem welschen Gruß, Adieu. Deutschland sagt auf Wiedersehen.‹ Das hat mir aus dem Herzen gesprochen. Ich konnte nämlich den Französischlehrer nicht ausstehen. Und er mich erst recht nicht. 1933 ging’s dann richtig los mit den Plakaten. ›Der Führer ist unser Gewissen!‹ und ›Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‹. Und gestern, als ich am Gericht vorbeiging, weil es den Obertrottel Friedrich Feuereisen dorthin drängte, als würden sämtliche Frankfurter Richter auf ihn warten und ihm goldene Schüsseln hinhalten, was stand auf einem Plakat an der alten Eingangstür? ›Hier wird wieder Recht gesprochen, wo die Nazis es gebrochen‹. Wer’s glaubt, wird selig, hätte meine Mutter gesagt.«
    »Deine Mutter«, wagte Fanny und staunte sehr, dass sie den Satz fertig zu sprechen wagte, »sie war doch meine Großmutter, nicht wahr? Genau wie Betsy.«
    »Ja, natürlich. Kannst du dich denn gar nicht mehr erinnern? Sie hat dir bei jedem Besuch eine Tüte Salmiakpastillen aus der Apotheke und ein altes Spielzeug von mir mitgebracht, und du hast ein so unglückliches Gesicht gezogen, dass ich mich jedes Mal in Grund und Boden genierte. Und ausgerechnet bei dem dreibeinigen Karnickel, das ich liebte, als wäre es lebendig, und mit dem ich noch als Neunjähriger ins Bett ging, hast du gesagt: ›Das ist ja kaputt, das kommt in die Kiste.‹ Mein Gott, war Mutter gekränkt. Sie war so sparsam, dass uns die Dienstmädchen der Reihe nach weggelaufen sind und ich meinem Banknachbarn die Schulbrote geklaut habe, weil meine immer nur mit Butter bestrichen waren. Trotzdem war sie eine fabelhafte Frau, mutig, stark, hilfsbereit und eine Gerechtigkeitsfanatikerin. Betsy hat mir in dem ersten Brief, der mich in Nürnberg erreichte, geschrieben, dass sie bis zuletzt mit meiner Mutter in Theresienstadt zusammen war. Im selben Haus. Es tut mir gut zu wissen, dass sie nicht allein war, als sie starb. Ach, wahrscheinlich ist dein Vater ein sentimentaler alter Esel, aber ich finde, du bist ihr ähnlich. Nur bist du viel hübscher, als sie war. Verzeih mir, Mama! Aber du hast immer gesagt, ich darf nicht lügen. Ach Fanny, weißt du, was Gottes schlimmste Strafe ist? Selbst wenn er uns den letzten Kanten Brot und das letzte Stück Hoffnung nimmt, er lässt uns unsere Erinnerungen.«
    »Ich weiß. Ich weiß auch zu viel. Zu viel von früher, meine ich. Was meinst du, wie ich die Mädchen in meiner Klasse beneide. Die reden immer nur von der Zukunft, von ihrer Konfirmation, von den weißen Kniestrümpfen, die sie aus Zuckersäcken stricken, dass sie ihre Zöpfe abschneiden wollen und mit sechzehn in die Tanzstunde gehen werden. Ich glaube, die haben den Krieg und die Bomben total vergessen. Und sie reden so selbstverständlich von ihren Müttern wie ich von meinem Taschentuch.«
    Sie spürten beide im gleichen Augenblick, dass Schmerz der Tribut für Überleben war. Trotzdem lächelten sie

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