Heimkehr in Die Rothschildallee
bitten.«
Eine verängstigte Frauenstimme rief: »Wer ist da?« ins Treppenhaus und meldete in Richtung Wohnung: »Es ist ein Mann. Ein Mann mit einem jungen Mädchen.«
»Donnerwetter, muss die sich weit übers Treppengeländer gebeugt haben.«
In der Wohnung im ersten Stock zeterte eine weinerliche Mädchenstimme: »Das ist mein Brot, Dieter. Ich sag’s der Mutti, wenn du’s mir wegnimmst.«
Der augenscheinlich zu Raub und Körperverletzung entschlossene Dieter drohte: »Wenn du dein Maul aufmachst, du miese Petze, schlag ich dir alle Zähne aus.«
»Eine feine Familie!«, sagte Fritz. »So eine wollt ich schon immer kennenlernen.«
Theo Berghammer, das Haar akkurat gescheitelt und mit Wasser an den Kopf gepresst, in einer braunen Jacke, die ihm der Hungerzeit entsprechend zwei Nummern zu groß war, und mit einer weiß gepunkteten dunkelblauen Krawatte, erweckte den Eindruck eines Mannes mit Übersicht. Er kommandierte seine streitenden Kinder mit einem barschen Wort, das weder Fritz noch Fanny verstanden, in die Küche, machte eine Bewegung, die auch seiner Frau den Abgang befahl, und bat seine Besucher in einen Raum mit zwei Sesseln, Sofa und einem Couchtisch, auf dem ein Aschenbecher und eine Vase mit weißen Papierrosen standen. Fritz sah den Stuck an der Decke und begriff, dass Fanny und er im ehemaligen Esszimmer der Familie Sternberg standen. In dem furchtbaren Moment, da ihn der Schmerz verbrannte, sah er die weißen Kerzen in dem Sabbatleuchter und Johann Isidor den Mohnzopf mit einem langen silbernen Messer anschneiden. Der zweijährige Salo im weißen Rüschenhemd saß auf Victorias Schoß. Sie trug ein mokkafarbenes Seidenkleid mit einem tiefen Ausschnitt und einer dreireihigen Perlenkette. »Dein Kleid ist zu tief ausgeschnitten, Vicky, das ist einfach zu viel des Guten.« – »Wetten, dass Herr Doktor Feuereisen der einzige Mann in ganz Deutschland ist, der an meinem Dekolleté Anstoß nimmt?«
Obgleich Theo nur bei der kurzen Begegnung an der Haustür Fanny gesehen hatte, wusste er sie einzuordnen – und geriet prompt auf die falsche Spur. »Erwin?«, fragte er, als er Fritz seine Rechte entgegenstreckte. Er wunderte sich, dass er keinen einzigen Zug in Erwins Gesicht erkannte. »Mein Gott«, seufzte er, »ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Am besten nichts, Herr Berghammer. Nichts zu sagen hat sich in Deutschland seit jeher bewährt. Feuereisen heiß ich. Rechtsanwalt Dr. Friedrich Feuereisen. Jedenfalls bis zum deutschen Schicksalsjahr 1933.«
Noch während er sprach, kulminierte die Vergangenheit zu einem Berg von Zorn. Er sah sich in seiner Kanzlei den Brief lesen, der seine berufliche Vernichtung bedeutete. »Ich bin Victorias Mann«, sagte Fritz. Seine Stimme war überdeutlich. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an Victoria erinnern.«
»Aber natürlich erinnere ich mich. Wir sind doch zusammen aufgewachsen, Ihre Frau Gattin und ich. Ist sie noch, ich meine, hat sie …«
»Sie hat nicht, und sie ist nicht mehr, Herr Berghammer.«
»Das tut mir leid, Herr Doktor Feuereisen. Nehmen Sie mein aufrichtiges Beileid entgegen. Ihr Bruder Otto war mein Freund, mein bester Freund.«
»Otto ist 1914 gefallen. Aber nicht doch! Ich verstehe Sie sehr gut. Tote Juden waren in Deutschland immer gelitten.« Fritz wurde übel, als er das sagte. Die Vorstellung peinigte ihn, er würde fortan seine Muttersprache missbrauchen, um an die Schuld seines Vaterlands zu erinnern. Galt denn Gottes Wort »Mein ist die Rache« nicht mehr? Seit wann hatten die Opfer das Recht zur Selbstjustiz?
»Ich hab auch Clara gut gekannt«, wagte es Theo.
»Besonders gut, sagte mir ihre Mutter. Ich vermute, Sie bekennen sich anno 1946 auch zu Claudette. Sie wird zwar im Juni achtundzwanzig und ist nicht mehr auf väterliche Obhut angewiesen, aber bestimmt ist in Deutschland heute eine jüdische Tochter von Vorteil. Entschuldigung, der letzte Satz hat sich wohl ein wenig verselbstständigt.«
Fritz sah, dass Theo bleich war und dass seine Hände zitterten. »Wir wollen es kurz machen, Herr Berghammer«, sagte er. »Ich bin nicht hergekommen, um von der Vergangenheit zu reden. Mir geht es um die Zukunft. Ich gehe davon aus, dass Sie derzeit im Besitz dieses Hauses sind. Falls Sie den Unterschied kennen sollten, wird Ihnen aufgefallen sein, dass ich nicht von Eigentum gesprochen habe.«
»Nein«, sagte Theo. »Ich meine, ja. Nur weiß ich nicht, was Sie von mir wollen, Herr Doktor Feuereisen. Ich bin in
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