Heimkehr in Die Rothschildallee
um Brotmarken, Bezugsscheine für den täglichen Bedarf und um die heiß begehrten Persilscheine, die die politisch weiße Weste bescheinigen sollten.
Zu den größten Widersprüchen der Zeit gehörte, dass weder die Sorge um das tägliche Brot noch die eiskalten Wohnungen Deutschlands Frauen davon abhielten, in den Spiegel zu schauen. Mochten die Eisblumen an den Fensterscheiben blühen, und mussten sie die Mittagssuppe aus Kartoffelschalen kochen und beim Fischhändler stundenlang anstehen, um ein Viertelpfund Heringsersatz oder zwei Fischköpfe nach Hause zu bringen, es wurden seidenweiche Träume aus vergessener Zeit wach. Deutschlands Frauen interessierten sich wieder für Mode. Sie trennten alte Kleider auf und nähten aus ihnen Röcke mit Falten und Blusen mit Volants, und für ihre Töchter schneiderten sie Tanzstundenkleider aus umgefärbten weißen Stores und aus dem eigenen Brautkleid. Großmutters Hüte wurden zur Putzmacherin getragen, und die zauberte aus ihnen Friedensgebilde mit Schleier, Federn und bunten Hutnadeln – so die Kundin in Naturalien bezahlte. Wer die Hutmacherin gar mit einem Paar Nylonstrümpfe entlohnen konnte, brauchte weder Nähgarn, Nadeln noch die üblichen vier Briketts mitzubringen.
Der Münchner Modeschöpfer Heinz Schulze-Reichenbeck entwarf einen praktischen Mantel mit Kapuze, der leicht aus einer Decke nachzuschneidern war. Betsy bekam Annas erstes Modell. »Den letzten Mantel«, erinnerte sie sich, »habe ich mir noch im Kaufhaus Wronker gekauft. Sandfarben mit einem dunkelbraunem Samtkragen und mit riesengroßen Perlmuttknöpfen. Erwin ist mitgekommen, um mich zu beraten, weil ich mich nie so recht an die Mode der Saison getraut habe. Er hat gesagt, ich sehe aus wie Lilian Harvey. Nur drei Mal so groß und breit und nicht blond und viel sympathischer. Wir haben Tränen gelacht, die Verkäuferin war total eingeschnappt. Zu Hause habe ich den Mantel angezogen und bin vor Johann Isidor auf und ab paradiert wie ein Zirkuspferd, und als er endlich die Zeitung aus der Hand gelegt und mich angeschaut hat, hat er gesagt: ›Irgendwie siehst du heute anders aus als sonst. Ist dir nicht gut, oder warum läufst du dauernd im Zimmer auf und ab?‹ Da war ich es, die total eingeschnappt war.«
»Ich kann mich genau erinnern. Vicky hat die Szene zig Mal nachgespielt, wenn du nicht da warst, und Clara und ich haben jedes Mal auf dem Boden gelegen vor Lachen.« »Weißt du auch noch, dass du den Mantel für Alice kleiner gemacht hast, als wir erfahren haben, dass es in Südafrika auch Winter gibt. Ach Anna, selbst wenn Gott uns alles nimmt, unser Gedächtnis lässt er uns. Das nennt man Strafverschärfung, hat Fritz erst neulich gesagt, als wir darüber sprachen.« Schneiderin und Mantelträgerin umarmten sich vor dem kalten Ofen.
»Immer müsst ihr weinen«, beschwerte sich Sophie, »ich finde es doof, wenn Erwachsene weinen.«
»Nicht doof, Sophie, traurig.«
»Ist das nicht dasselbe?«
Schuhe mit Holzabsätzen galten als chic, ein Karoschal aus Amerika, der wie ein Cape zu tragen war, war der Traum von Jung und Alt, CARE-Baumwollpakete mit zehn Meter Kleiderstoff und mit Strickwolle in allen Farben waren der Volltreffer in der Alltagslotterie. Im Kino war die Wochenschau ebenso wichtig wie der Hauptfilm und zeigte die »New-Look-Mode« des französischen Modeschöpfers Christian Dior. Seine großzügig geschnittenen, weiten Röcke reichten den Frauen fast bis zu den Fesseln. Weil es in Deutschland nur auf dem Schwarzmarkt Stoff zu kaufen gab, verlängerten die Frauen ihre Röcke und Kleider mit Blenden von Kleidungsstücken, die sie aus der Mottenkiste holten. Sogar Sophie wurde zweifarbig herausgeputzt. Ihr dunkelblaues Sonntagskleid wurde mit Mamas gelber Kaffeedecke verlängert. Der Stoff reichte noch für eine Haarschleife. Fanny bekam ein Kopftuch mit passendem Schal.
Für Fannys Geburtstag im März begann Anna mit der Arbeit an einem Rock aus dem karierten Schottenplaid, das bei Clara auf der Couch gelegen hatte. Abgesetzt wurde die rot-grüne Kreation mit dem schwarzen Filzstoff, der im Krieg zur Verdunklung der Fenster benutzt worden war. Der Karorock beflügelte Betsy so, dass auch ihr ein Geschenk zu Fannys sechzehntem Geburtstag einfiel. Nach zwei vergeblichen Besuchen in der Tauschzentrale auf der Zeil gelang es ihr beim dritten Mal, zwei Bücher des schottischen Schriftstellers Walter Scott zu ergattern. Für seine weltberühmten Klassiker »Ivanhoe« und »Rob
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