Heimkehr in Die Rothschildallee
Roy« trennte sie sich von den Lederhandschuhen, die ihr am Tag der Befreiung aus Theresienstadt ausgehändigt worden waren.
»Du weinst ja schon wieder«, stellte Sophie fest, als sie Betsy im »Ivanhoe« lesen sah.
Hans fand auf dem Männerklo der Druckerei die erste Ausgabe des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«. Er packte die Trophäe so vorsichtig in die Aktentasche, als hätte er rohe Eier nach Hause zu schaffen. Die neue Wochenzeitschrift erschien in einer Auflage von fünfzehntausend Stück, sie hatte zweiundzwanzig Seiten und fiel durch ihre respektlose Sprache und die vielen Fotos auf. Hans las sogar beim Abendessen. Er merkte noch nicht einmal, dass es falsche Fleischwurst aus Gerstengrütze und Kartoffeln gab. Zu den Themen der ersten Ausgabe gehörten die Wahlen in Hessen, die Diskussion über den Abtreibungsparagrafen 218, die Situation auf dem Schwarzmarkt und die Lage der deutschen Kriegsgefangenen. In der Familie Dietz nahm das Lesevergnügen allerdings ein abruptes Ende. Der kleine Erwin nutzte die gemeinsame Abwesenheit von seiner Mutter, Betsy und Fanny und eine Ruhepause seines nach der Arbeit erschöpften Vaters, um sämtliche Bilder aus dem »Spiegel« zu schneiden und mit Annas selbst hergestelltem Leim sowohl die Bilder als auch den Text in seinem Struwwelpeter-Buch zu überkleben.
»Früher wurden unartige Kinder mit Puddingentzug bestraft und ins Bett gesteckt«, wütete seine Mutter. »Aber den letzten Pudding in diesem Haus hat es vor einem Jahr gegeben, und Erwin ins Kinderzimmer zu schicken wäre Mord. Dort ist es so kalt, dass selbst die Stubenfliegen erfrieren.«
Um ihren Mann über den Verlust des »Spiegel« hinwegzutrösten, tauschte sie mit der Nachbarin zur Linken fünfzig Tabletten Sacharin gegen die Illustrierte »Heute« ein. Auf der Titelseite brachte die Ausgabe ein Foto von vier frierenden Berliner Trümmerfrauen in Mantel, Schal und Kopftuch, die ihre klammen Hände an einem Feuer wärmten, das auf dem Bürgersteig auf einem Haufen Steine brannte. Sophie schaute das Bild immer wieder an. Das Feuer malte sie mit einem Rotstift aus, und die Trümmerfrauen kolorierte sie mit blauer Tinte. Dann fasste sie einen Entschluss, den sie lange nicht vergessen würde.
Ihr wurden in der Apotheke, in der sie sich nur aufhielt, um ihre Hände an einem kleinen Kanonenofen in der Ecke aufzutauen, die Handschuhe gestohlen. Statt den Dieb zu verteufeln, der die momentane Unachtsamkeit eines fünfjährigen Mädchens gewissenlos ausgenutzt hatte, machte Anna seinem Opfer schwere Vorwürfe. Zwei Tage später, morgens um neun, ging Sophie ans Werk; vom benachbarten Trümmergrundstück schleppte sie die größten Steinbrocken heran, die sie tragen konnte, und baute mit Freundin Lena die Berliner Feuerstelle nach. Ihr Meisterstück füllte sie mit den Zeitungen und dem Holz, die ihre Mutter für die allergrößten Notfälle im Keller versteckt hielt. Als Brandbeschleuniger verwendete die findige Ofensetzerin das gesamte Feuerzeugbenzin, das ihr Vater erst am Vortag gegen drei »Lucky Strike« und drei Feuersteine eingetauscht hatte.
Die Flammen loderten sofort in die Höhe. Lena schrie: »Die Russen kommen«, presste die Hände an die Ohren und versteckte sich, leise vor sich hinjammernd, hinter einer kahlen Kastanie. Auf der Flucht verlor sie ihre Mütze. Im Nachbarhaus schlug die Frau des Briefträgers, eine allzeit besorgte Mutter von drei Kindern, die gerade ihr Bettzeug zum Lüften ins Fenster gelegt hatte, entsetzt ihre Hände vors Gesicht, holte Federbetten und Kissen zurück in die Sicherheit ihrer Wohnung und schloss das Fenster mit einem Knall. Ein Mann mit Gehstock und langjähriger Erfahrung im Wegsehen eilte mit kräftigen Schritten, die ganz im Widerspruch zu seiner schwächlichen Erscheinung standen, seinem Ziel in der Königswarterstraße entgegen.
Dass es trotz dieser Umstände nicht zu einer Tragödie kam, war einem beherzten achtzehnjährigen Buchhändlerlehrling zu verdanken. Sein Chef hatte ihn an diesem Morgen ins Amerikahaus geschickt, um einen Artikel von Erich Kästner aus der »Neuen Zeitung« abzuschreiben. Dank seiner Ausbildung zum Flakhelfer im letzten Kriegsjahr gelang es dem reaktionsschnellen jungen Mann, der schreckensstarren Sophie den bereits schwelenden Mantel vom Körper zu reißen. Sophie warf er zu Boden, rollte sie dort einige Mal hin und her, als wäre sie ein Teppich, und prüfte danach mit der Sorgfalt, die ihm jahrelang eingebläut worden war,
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