Heimkehr in Die Rothschildallee
das Letzte, Anna.«
»Und wenn ich ihn nie wiedersehe, habe ich ihm und Betsy und der armen Vicky noch nicht mal mehr Lebewohl gesagt. Ich würde mich mein ganzes Leben schämen.«
»Es ist trotzdem richtig so. Johann Isidor wird es verstehen, glaube mir. Er hat immer nur an seine Familie gedacht. Und wir müssen jetzt an unsere kleine Sophie denken. Wir sind nicht mehr frei, unserem Gewissen zu folgen. Wir können es uns nicht mehr leisten, anständig zu sein und Mut zu haben.«
Noch stand nicht fest, ob das erste Kind der Eheleute Dietz nicht ein Junge sein würde. Hans und Anna, die seit den brennenden Synagogen und der brutalen Behandlung der Juden, die sie an dem Abend von Hass und Entfesselung erlebt hatten, nicht mehr an die Wirkung von Gebeten glaubten, flehten seit Monaten Gott um eine Tochter an – eine Tochter, der niemand ein Gewehr in die Hand drücken würde, die im Feindesland keine Häuser und Höfe brandschatzte und die Müttern nicht ihre schreienden Babys vom Arm riss.
Hans Dietz, der für seine Überzeugung schon 1934 im Konzentrationslager Dachau hatte büßen müssen, wusste, wovon er redete. Im Polenfeldzug, der Deutschland in einen Rausch versetzte wie kein Sieg mehr seit der Schlacht von Tannenberg im Ersten Weltkrieg, hatte der Gefreite Dietz sein linkes Bein verloren. Bis zum Sommer 1940 hatte er in einem Lazarett in Krakau gelegen, hatte Anna lange, sehnsüchtige Briefe geschrieben und nicht mehr geglaubt, dass er sie je wiedersehen würde. Schließlich war er doch nach Frankfurt verlegt und bald danach aus der Wehrmacht entlassen worden.
»Irgendwer, der es endlich gut mit mir meint, hat das letzte Wort behalten«, pflegte er zu sagen, wenn er nun mit Anna im Frankfurter Ostpark spazieren humpelte. Dort konnten sich die beiden vorgaukeln, es sei Frieden und alle, die sie liebten, wären davongekommen. Sie saßen auf Bänken, auf denen nun nicht mehr stand »Für Juden verboten«, weil es kaum noch Juden gab und die verbliebenen nicht in öffentliche Parks durften. Sie fütterten Eichhörnchen und Vögel und träumten von Wohnungen, in denen kein Blockwart in die Töpfe schaute und darauf lauerte, die Mieter wegen kritischer Äußerungen anzuzeigen.
Hans war mit überquellendem Herzen zu seiner Anna zurückgekehrt und mit ebensolcher Dankbarkeit zu den Druckmaschinen des Frankfurter Generalanzeigers. Wegen Annas nicht zu beschaffendem »Ariernachweis« hatte das Paar sich erst in den Wirren des Krieges zu heiraten getraut. Als »Anerkennung für die Verdienste des Antragstellers um das Wohl des Vaterlands« war den Jungverheirateten eine Zweieinhalbzimmerwohnung in der Thüringer Straße zugewiesen worden, wo Anna einst mit ihrer ersten Liebe zu flanieren pflegte. Als ihre Schwangerschaft endgültig feststand, hatten sie und Hans einander feierlich versprochen, sich nie mehr wissend in Gefahr zu bringen und einander nie zu belügen.
Sie waren beide wortbrüchig geworden, doch der Wortbruch war ihnen weder infam noch unloyal, sondern zwingend notwendig erschienen. Für die Lüge aus Barmherzigkeit hatten sie von Anfang an einen Platz in ihrem Leben reserviert. Hans Dietz, der Mann, der sich nicht beugen ließ, hielt weiter Verbindung zu den Genossen der Vorkriegszeit, und die gehörten ausnahmslos dem Widerstand an. In ihren Kellern lagen unter den Kartoffelkisten und Kohlenhaufen die Kampfschriften gegen die Nazis, die sie nachts zu verteilen versuchten. Die Mutigsten von ihnen versteckten auch Menschen, denen die Deportation und der Tod im Konzentrationslager bestimmt waren.
Anna hatte ihrem Mann versprochen, die Sternbergs nicht mehr so regelmäßig in der Bockenheimer Landstraße aufzusuchen, wie sie es während seiner Soldatenzeit und seines Lazarettaufenthalts getan hatte. Trotzdem ging sie so oft hin, wie es ihr nur möglich war. Sie versorgte ihre bedrängte Familie regelmäßig mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten. Betsy, die sich mit ihren neunundsechzig Jahren nur langsam von einer Lungenentzündung erholte, verschaffte sie Stärkungsmittel, die sie bei einer Apothekerin gegen Schreibpapier eintauschte, das Hans gelegentlich vom »Generalanzeiger« mitbringen konnte.
Als ihr Mann von der anstehenden Deportation der Frankfurter Juden berichtete, weihte Anna ihren Vater in ihren todesmutigen Plan ein. Johann Isidor war außer sich. Er lehnte schockiert ab und redete den ganzen Abend nicht mehr mit ihr, doch beim Abschied liefen ihm Tränen übers Gesicht und er
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