Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Kompensationsmöglichkeiten entwickelt hat, und das scheint ja bei Ihnen der Fall zu sein, sonst säßen Sie mir jetzt nicht so entspannt gegenüber. Ganz abgesehen davon, dass diese Diagnose von unten kaum mehr als ein spekulativer Verdacht ist. Aber nehmen wir mal an, unsere Untersuchungen würden diesen Befund bestätigen …«
»Aber ich bin sehr gründlich durchleuchtet worden …«
»Naja, was man unten so für gründlich hält«, Referent kurz eine Spur zu selbstsicher, pegelt Souveränität daher schnell wieder etwas runter. »Nun, die Kollegen in der Stadt haben gewiss einwandfreie Arbeit geleistet, aber wir haben hier selbstverständlich ganz andere technische Möglichkeiten. Ich werde Sie gleich untersuchen, und falls Ihre parasympathischen Leitungen tatsächlich nicht …«
»Was machen wir dann?«
»Nicht viel. Man muss das beobachten, natürlich, und wir sollten vielleicht ein paar kleine unterstützende und ausgleichende Behandlungen erwägen. Aber ich würde nicht übereilt zu einer Sympathektomie greifen, denn …«
»Einer was? Das heißt?«
»Sie wissen nicht, was eine Sympathektomie ist? Sie haben nicht die geringste Ahnung von medizinischen Dingen?«
Sie macht mir ungerührt weiter runde Augen:
»Nein, leider nicht. Aber woher sollte ich auch? Man weiß so wenig, wenn man da unten lebt, wissen Sie?«
»Wie Sie wollen. Also, eine Sympathektomie bedeutet, dass man hier und da ein bisschen was wegschneidet vom Sympathikus, zum Ausgleich, verstehen Sie? Halte ich aber in Ihrem Fall nicht für angeraten. Wir probieren’s stattdessen lieber erst mal mit ein paar leichten Frequenz- und Drucksenkungen, Verlangsamungen ganz allgemeiner Art, um trotz der dysfunktionalen Parasystemik alle notwendigen Sekretions- und Durchblutungsleistungen stabil zu halten, vor allem an die Leber und die Geschlechtsorgane und so weiter denken, kleine minimalparalytische Impulse wie …«
»Schocken?«
»Sie meinen Konversionstherapie? Nein, auf gar keinen Fall. Konversion wäre ganz kontraproduktiv in Ihrem Fall. Nein, wir sollten uns erst mal auf Pranayama konzentrieren und …«
»Sie meinen Atemübungen?«
»Wenn Sie’s so nennen wollen, wobei es natürlich weit mehr umfasst als bloßes …«
»Wir sitzen hier zusammen und atmen?«
»Na, nicht hier in der Aufnahme natürlich, sondern im Pranayama -Raum.«
»Ich komme hierher, und Sie zeigen mir, wie man atmet? Dafür komm ich dreimal die Woche den ganzen Weg aus der Stadt?«
Patientin steigert von Satz zu Satz aggressive Amüsiertheit, wobei für Referent unklar, ob sie bloß Theater spielt oder tatsächlich verärgert ist. In beiden Fällen scheint mir Sanftmut das beste Mittel dagegen.
»Ich verstehe Ihren Unmut, das geht allen anfangs so. Sie glauben, Sie wüssten, wie man atmet, aber das ist freilich nicht so, glauben Sie mir. Sie werden sehen, der Effekt der Behandlung wird Sie den damit verbundenen Aufwand und die Einschränkungen in Ihrem Leben nach kürzester Zeit vollkommen vergessen lassen. Aber wir können die Behandlung selbstverständlich auch stationär durchführen, der Befund rechtfertigt dies mehr als genug. Wenn Ihnen das praktikabler …«
»Nein, ich bin schließlich offiziell als Ambulante eingestuft und von der Klinikleitung als solche hierherbeordert worden. Und außerdem habe ich ja ein Leben da unten.«
»Ah ja?«
»Ja, habe ich.«
Jetzt habe ich sie! Patientin schlägt zwar ebenso wenig mit den Lidern wie Referent, der ihr dank jahrelanger intensiver autohypnotischer Praxis schweigend tief in die Augen sehen kann, als wären sie bloß die irgendeiner dahergelaufenen Katze, aber für einen Moment ist da ein kurzes Flackern von echter Wut und Verletzung in der bernsteingepunkteten grünen Iris. Wahrscheinlich ist aber auch das nur ein Trick oder eher noch reine Einbildung des Referenten, der sich immerhin sagen kann, dass die Grundlage einer Unterscheidung von echter Wut, Trickspiel und Einbildung in diesem Raum nicht gegeben ist und die Unterschiede zwischen ihnen daher keinen Unterschied machen und also irrelevant für weiteres Vorgehen sind, selbst für den nicht ganz unwahrscheinlichen Fall, dass das Flackern eine Spiegelung seiner eigenen Iris in der der Patientin war, und so lassen die Herzstiche in meinem Magen deutlich nach und Referent kann in aller überheblichen Seelenruhe weitersprechen:
»Schön, gut, dann also eine ambulante Behandlung, warum auch nicht? Wir konzentrieren uns auf Pranayama , und außerdem
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