Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
immer, schon wieder die leichteste, der duftige Flieder hüllt uns ganz genauso ein wie gestern, mein Blick könnte wieder über die Terrasse schweifen und dann die grünen Wiesen hinabtollen. Als wäre heute nichts geschehen, als wäre ich nicht von einem Tag auf den anderen, auf einmal schon vor zwanzig Jahren im Herbst, in meinem Herbst hier angekommen, denn zwanzig Jahre sind zwar kein Tag, aber erst seit heute sind sie plötzlich vergangen, and that difference is you .
Diese Sache muss schneller behandelt werden, wer weiß, wann ich es schaffe, ins Schlaflabor zu gehen, und bis die Ergebnisse kommen, vergeht noch mal … aber nein, was könnte ich vorher schon tun?
Schwester Caroline macht auf dem Podium dem Streichquartett Platz, die Hauptspeise wird aufgetragen, und ich nutze die geschmeidig beiläufigen Bewegungen der Kellner, die sich auf die Körper der Abendgäste übertragen, um meinen Oberkörper mit einem hilflos aufdringlichen Lächeln ganz meiner Tischdame zuzudrehen. Sie belohnt mich mit einer hochgezogenen Augenbraue und schiebt dann mit der Gabel die Dinge auf ihrem Teller herum, als wolle sie sie zählen. Jetzt zeigt sie aber doch Erbarmen und nuschelt, während sie übertrieben lange an einem ersten Bissen Entrecôte herumkaut, durch die Zähne:
»Verzeihen Sie meine unkonviviale Kommunikationslosigkeit, Herr Doktor, sehr unhöflich von mir, aber ich sinniere.«
»Natürlich, lassen Sie sich nicht stören.«
»Ich sinniere mit drei n, müssen Sie wissen, ich sinnniere , da muss ich mich jetzt durchbeißen.«
»Mit drei n?«
»Ja, ja«, sie zerkaut unwirsch den butterweichen grünen Spargel, als wäre er aus Gummi. » Sinnnieren bedeutet schließlich, den Sinn in die Niere aufzunehmen und dieses derart gefüllte Nierchen im eigenen Leibe zu verspeisen, denn dass der Sinnierende oder vielmehr Sinnnierende wirkt, als sei er ins Nachdenken versunken, liegt ja daran, dass er an seiner sinngefüllten Niere nagt, nicht etwas nagt an ihm, nein, er selbst kaut seine Niere durch, bis sie sich durch den Darm auf ihre naturgemäße Wanderschaft ins Klosett aufmacht. Freilich schleust sich diese zersetzte und in alle Rohre verstreute Niere über die Kanalisationswege trotz der umsichtigsten Wasserreinigung via Trinkwasser neuerlich in ihren Wirt ein, um sich dort wieder zusammenzufügen und dann den neuen Sinnmüll bereitwillig wieder aufzunehmen, und so weiter.«
»Ach so? Und ich dachte immer, sinnieren sei eine eher entspannte Tätigkeit, der Sinn geht spazieren und man selbst sitzt zurückgelehnt da und sieht ihm aus schläfrigen Augen hinterher und …«
»Nein nein, keineswegs.«
»Ah ja, und man sinnniert am besten beim Essen? Da man sowieso schon mal kaut?«
»Naja, es hilft ein wenig.«
»Ich verstehe. Verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe.«
»Schon gut. Es ist heute ohnehin eine schrecklich zähe Sache.«
»Und wenn die Niere sich nicht zurück in den Körper schleusen würde, könnte auch der Sinn sich nicht wieder dort hineinstehlen, richtig? Müsste man also nur ein für allemal die elende Niere loswerden, oder wäre es dann noch schlimmer, weil der Sinn dann vollkommen ungebunden im Körper sein Unwesen treiben würde?«
»Also wirklich, Herr Doktor!« Sie lacht laut auf und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihre etwas zu schwarzen Haaraufbauten in Auflösungsgefahr geraten. »Was reden Sie denn da, um Himmelswillen!
Ist Ihnen nicht gut?«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nur …«
»Auf mich eingehen? Zugehen? Mir entgegenkommen? Auf halbem Wege? Oder auf ganzer Linie?«
»Äh, ja durchaus, wenn Sie so wollen, Gnädigste, ich versuche lediglich, mich in Ihre Wortbedeutungen einzuleben, statt Urteile aus Ihren Wortbegriffen zu ziehen, und …«
»Ja, zu komisch, Herr Doktor! Was für eine bizarre Redeweise Sie am Leib haben, jawohl, bizarr und verschroben, so nenne ich es!«
Patientin schüttelt erneut lachend den Kopf, ein paar in Seenot geratene Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht, sie wischt sie sich mit den Lachtränen aus den Augen, schiebt dann erfrischt seufzend ihren Teller zur Seite, nickt auf einmal dem jungen blassen Anaboliker und seinem Pfleger an unserem Tisch freundlich zu, die ihr gefälligkeitsemsig im Lachen beigesprungen sind, und Referent stellt zerknirscht wieder einmal fest, dass die salutologische Immersionstherapie auch so ihre Grenzen hat. Mittlerweile nicht mehr froh über seinen Abenddienst, schaut sich sehnsüchtig nach dem Professor um,
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