Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
der aber nirgends zu sehen ist, sich anscheinend heute zu schlimm aufgeführt hat, um mit Pfleger O.W. hier draußen essen zu dürfen. Patientin bemerkt meine Verstimmung, tätschelt mir beschwichtigend den Handrücken:
»Na, nun seien Sie mir nicht böse für den kleinen Spaß, Herr Doktor!«
»Hm.«
»Na kommen Sie, lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen, das ist der verdammte Mai, der setzt uns allen zu. Aber Sie haben mich aufgeheitert, was weiß Gott keine leichte Sache ist, und dafür danke ich Ihnen herzlich, mein Junge, also seien Sie mir wieder gut, bitte.«
»Einverstanden, wenn es Sie amüsiert, bin ich gern bereit, den Idioten zu geben«, wir schütteln uns lächelnd die Hände, während der Kellner uns penetrant diskret das Dessert unterschiebt. »Was meinen Sie übrigens damit, dass uns der Mai zusetzt, wie kann etwas so Angenehmes wie …«
»Ach kommen Sie, Herr Doktor, mir müssen Sie diesen Blödsinn doch nicht erzählen! Ich bin schließlich schon ein Weilchen länger hier als Sie, obwohl Sie ja mittlerweile auch nicht mehr gerade ein Frischling sind, so appetitlich Sie auch immer noch aussehen, jedenfalls appetitlicher als dieses Dessert.«
»Hm.«
»Im Mai vor genau dreißig Jahren bin ich hierhergekommen und war damals schon so alt wie Sie jetzt, fast fünfzig.«
»Naja, ich bin noch nicht …«
»Doch doch, sind Sie. Mein Mann hat mich damals hier hoch begleitet und –«
»Er hat was ? Er ist mit hierher – ?«
»Jaja, damals kam das ab und an noch vor, wir waren zwar bereits in Trennungsarbeit, aber wir brauchten Unterstützung, ich hatte ein bisschen Malaisen mit dieser Nosomanie und so weiter, und so blieb er eine Woche mit mir hier.«
»Unvorstellbar. Das muss grauenhaft gewesen sein!«
»Oh nein, es war wundervoll, ganz wundervoll, die beste Zeit, die wir je hatten in fünfundzwanzig Jahren Ehe. Naja, wollen wir auch nicht übertreiben, aber es war ganz nett, ja, eine ganz schöne Zeit, doch. Könnte ich wieder auf mein Zimmer jetzt?«
»Noch nicht, Sie essen bitte erst das Dessert.«
»Mir ist nicht recht wohl, vielleicht sollte ich noch einen kleinen Verdauungslauf machen, nur für fünf Minuten noch mal aufs Band, meinen Sie nicht, Herr Doktor?«
»Nein, meine ich nicht. Und Ihr Mann ist dann, also ich meine, nach dieser Woche, da ist er, wie soll ich sagen …?«
»Jaja, wir sind schließlich vernünftige Leute. Aber manchmal denke ich, es war doch ganz schön, vorher meine ich, bevor ich hierherkam.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Nein, eigentlich nicht, es war alles ganz schön beschissen, im Grunde genommen. Aber es lief zum ersten Mal richtig gut, wir hatten ja schon etliche Jahre zuvor den Auftrag bekommen, das Brot-und-Butter-Geschäft für die Bank zu übernehmen, dafür hatten wir immerhin zehn Jahre hart gearbeitet, das Kapital vorausgeschickt, geh du schon mal vor, wir kommen dann schon nach, und nun, wo wir gewissermaßen die Früchte …«
»Mhm, apropos, essen Sie bitte Ihr Dessert, ich werde langsam müde, das zu wiederholen.«
»Hab mir noch nie was aus Dessert gemacht, kleinbürgerlich verklemmte Protzerei, als gäb’s jeden Tag was zu feiern, nur weil auch heute wieder keiner tot von der Arbeit zurückgekommen ist.«
»Ja, mag sein, aber das Obst wird Ihnen …«
»Schon gut«, sie seziert angewidert eine Erdbeere mit den Schneidezähnen und spuckt sie dann wieder aus. »Ich bin sicher allergisch dagegen.«
»Na schön, ich bring Sie zurück auf Ihr Zimmer.«
Referent erhebt sich, um Patientin aus ihrem Stuhl herauszukomplimentieren, ist dabei aber etwas zu langsam, vielleicht sogar schwerfällig, zumindest ist es ein unschöner Zufall, dass Hugo Rapin, der blasse Anaboliker, jetzt aufspringt und sich in schüchterner Aufregung an Patientin wendet:
»Wenn Sie erlauben, Gnädigste, verzeihen Sie, aber würden Sie mir die Ehre tun, mit mir zu tanzen, bevor Sie sich zurückziehen?«
»Na schön, mein Kind, warum nicht. Erlauben Sie, Doktor?«
»Natürlich, natürlich, tanzen Sie nur, aber achten Sie auf Ihre Hüfte!«
»Jaja, verderben Sie mir nur schon wieder den Spaß!«
Arm in Arm eilen sie der Musik entgegen, aber statt zu tanzen, lassen sie sicham Rand der leeren Tanzfläche auf einer langen Holzbank neben einem anderen Patientenpaar nieder, stecken die Köpfe zusammen, und sogleich spricht Rapin aufgeregt gestikulierend ins geneigte Ohr von Frau von Hadern, die unausgesetzt nickend mit halbgeschlossenen Augen zu mir
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