Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Hände hinterm Kopf und schloss die Augen. Ich schlug ihr leicht gegen die aufgestellten Knie:
»Wie, jetzt machst du gar nicht mehr mit?«
»Doch doch«, murmelte sie schläfrig, »ich bin ganz bei euch, sprecht ihr nur weiter. Ich aber behalte all diese Worte und bewege sie in meiner Galle.«
»Wenn’s dir hilft. Also, können wir langsam von den armen Menschen, die auf Worte starren, zu unserem offenbar noch ärmeren Melancholiker kommen?«
»Ja, sofort«, er spannte seinen Rücken noch einmal nach, sodass der strahlend weiße Reißverschluss seiner Trainingsjacke wieder eine gerade Linie bildete, mischte dann die Bilder wie riesige Karten noch einmal und legte sie neu auf dem Rasen aus, dann atmete er laut aus, als sei er zu schnell eine Treppe hochgerannt und lächelte mich hilfesuchend an. »Bis jetzt ist alles noch richtig, oder?«
»Ja natürlich«, ich lächelte aufmunternd, »und das wird’s sicher auch bis zum Schluss bleiben.«
»Gut, wo war ich … ah ja, also, wir mussten mit unseren Wortspielen einen Übergang finden zu den episodischen sprachlichen Aufgaben des Gehirns, also zu denjenigen, bei denen die Probanden Erinnerungsleistungen zu erbringen hatten. Nach einer Reihe weiterer, höherstufiger semantischer Tests, wie etwa der Aufgabe, aus den Hauptwörtern Verben zu bilden oder Reime zu erkennen, haben wir die Probanden einen Schritt in die Vergangenheit gelockt. In einer Lernphase wurden ihnen verschiedene Wörter präsentiert, danach wurden ihnen in der Testphase Worte aus der Lernphase zusammen mit neuen Worten gezeigt, und sie mussten dann entscheiden, ob sie das Wort schon aus der Lernphase kannten oder ob es ein neu hinzugefügtes Wort war. Sie mussten also alt/neu-Entscheidungen treffen, und dazu war ein Teil des episodischen Gedächtnisses gefragt, denn die Probanden mussten dafür ja auf die frühere Lernphase zurückgreifen. Mit diesem Schachzug haben wir uns in den Kern ihres autobiographischen Ich eingeschmuggelt, denn wie wir gelernt haben: Das episodische Gedächtnis konstituiert das entscheidende Gewebe des autobiographischen Selbst . Die Probanden mussten per Knopfdruck entscheiden, ob sie das Wort wiedererkannten, dann tippten sie ein R für Recollection , oder ob es ihnen neu erschien, dann tippten sie ein N für New . Die Hirnantworten für R-Wörter, also fürs Wiedererkennen, zeigten relativ zu N-Antworten eine stärkere Aktivierung in links präfrontalen und parietalen Regionen sowie im hinteren Anteil des cingulären Kortex. Demgegenüber waren N-Antworten mit stärkerer Aktivität in beiden temporookzipitalen Regionen und – und jetzt kommt’s! – der Amygdala assoziiert, kann man hier schön sehen, nicht wahr?«
»Ja, sehr schön, und?«
»Für die mentale Repräsentation ist es übrigens, wie eine weitere Versuchsstrecke zeigte, unerheblich, ob die Probanden richtige oder falsche Antworten gaben, somit scheinen die Hirnantworten überwiegend durch die subjektive Erfahrung der Probanden determiniert zu sein.«
»Ist das wahr, ja? Nun gut, weiter.«
»Äh … ja, nun kommen wir zu unserem Patienten: Die Hirnkorrelate seiner R-Antworten sahen ganz anders aus als die seiner Kontrollgruppe, denn wie ich … äh, wir gesehen haben, zeigte er durchgehend eine klar herabgesetzte Frontalaktivität und andererseits eine überhöhte Amygdala-Aktivität. Und wie gesagt, die Kontrollgruppe wies im Gegensatz dazu nur bei den N-Antworten eine höhere Amygdala-Durchblutung auf.«
»Du willst sagen, dass der Mann, weil seine Hirnpotentiale, während er ein Wort wiedererkennt, eher aussehen wie die von jemandem, der ein neues Wort sieht, eine gestörte Gedächtnisfunktion aufweist, dass er wegen einer falschen Verschaltung seines limbischen Systems das Vergangene zwar als Vergangenes erkennt – er erinnert sich ja schließlich –, es zugleich aber emotional wie etwas Neues erfährt, und dass darin die Quelle seiner vermeintlichen Melancholie liegt?«
»Ja, genau. Das ist der Schlüssel zur Negativität seiner Erinnerungen: Alt ist für ihn das neue Neu! Er leidet gewissermaßen an einer umgekehrten Amnesie – er übertreibt’s mit der Erinnerung. Denn wie wir gelernt haben, werden episodische Erinnerungen nicht einfach gespeichert, sondern gelebt . Wir rufen Ereignisse in einer episodischen Form ab, um uns daran zu erinnern, wie sie sich angefühlt haben.«
»Tun wir das, ja?«
»Ja natürlich, du etwa nicht?«
»Nein, gewiss nicht, ich glaube kaum, dass ich
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