Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
neben der Tür hat fallen lassen, lasse mich wieder ihr gegenüber in Padmasana nieder, löse das oberste Blatt und halte es ihr hin:
»Kennen Sie diesen Mann?«
»N-nein. Noch nie gesehen.«
»Sie haben ja gar nicht hingesehen.«
Sie nimmt mir enerviert schnaufend das Bild aus der Hand, schaut eine Weile auf die krude verschlungenen Linien, gibt es mir mit schlaffer Hand zurück und sieht mir dabei ohne jedes Flackern in die Augen.
»Nein, ich bin ganz sicher, ich habe ihn noch nie gesehen. Was ist mit ihm, ist er tot?«
»Wir nehmen es an, ja, aber das würde ich gerne von Ihnen wissen.«
»Tja, was auch immer er ist, tot oder lebendig, in jedem Fall ist das wohl sein Problem und nicht meins.«
Sie springt auf, aber ich bin ebenso schnell, packe sie am Ellbogen, schlage ihr das Bild gegen die Brust und schreie ihr verzweifelt den alten Bannspruch ins Gesicht:
» Nimm es, lies es! Nimm es, lies es! «
Aber sie drückt mir das Bild gegen die Brust zurück und flüstert:
» Behalte – deine – Sachen – für – dich. «
»Diese Formel gilt hier nicht mehr. So einfach kannst du dich nicht von mir scheiden lassen.«
Sie streicht mir sanft über die Wange:
»Wir sind längst geschieden, Franz.«
»Was willst du dann hier?«
»Den Jungen holen.«
»Nur über meine Leiche!«
Ehe ich das letzte Wort ausgesprochen habe, fällt mir auf, wie lächerlich diese Drohung aus meinem Munde ist. Esther zieht dementsprechend nur mitleidig eine Augenbraue hoch, da kann ich es also auch gleich noch schlimmer machen:
»Eher soll ihn der Teufel holen!«
»Ja, das wäre dir … das war dir lieber, nicht wahr?« Sie fragt nicht wütend, nur traurig verwundert, als wäre alles erst gestern geschehen und sie könne es nur noch nicht fassen. »Lieber hast du ihn vom Teufel holen lassen, als ihn bei mir zu lassen.«
»Ich habe ihn nicht holen lassen, und schon gar nicht vom Teufel, diesem dämlichen alten Trottel, das weißt du genau. Du hast den Jungen nicht gewollt, wenn ich dich daran erinnern darf, du hattest Wichtigeres mit deinem Leben vor als dich um dein Kind zu kümmern!«
»Ich hatte etwas mit meinem Leben vor? Du bist noch immer amüsant, das muss ich dir lassen! Dass man mich ausgewiesen hat …«
»Du hättest bleiben können, du hättest Evelyn und mich nicht im Stich lassen müssen, du hättest nur …«
»… mit einem toten Mann leben müssen.«
»Halbtoten! Nicht tot, und auch nicht untot, sondern halbtot, darauf lege ich …«
»Lass es gut sein, bitte, Franz.«
»Aber das versuche ich doch hier!« Jammernd falle ich auf die Knie, Referent versucht, aus meinem Fauxpas noch irgendwie eine halbwegs saubere Helden-Pose, Virasana , zu machen, aber es will ihm nicht gelingen, er kann meinen Kopf nicht vom Brustbein heben. »Dann sag mir doch, wie ich das tun soll! Ich weiß, ich hätte die Stelle oben in Kertsch nicht annehmen dürfen, hätte mich nicht in einer Grenzklinik stationieren lassen dürfen, hätte mich nicht von der Frontalen nehmen lassen und keine besondere Pflege für die Inneren Organe leisten dürfen. Schon das erste Gelöbnis Nach innen immer weicher werden, und nach außen immer leichter … «
»Ist gut jetzt, Franz, hör auf«, sie kniet sich zu mir. »Es ist unser beider Schuld, fertig aus. Die Krim gibt es nicht mehr, uns gibt es nicht mehr, du bist hier oben, ich bin da unten, es ist wie es ist, und wir wollen jetzt nur noch versuchen, das Beste für Evelyn …«
»Kannst du nicht gekommen sein, um uns beide, den Jungen und mich, zu holen? Es wäre doch immerhin möglich, dass es in Wirklichkeit so war … also ist , oder? Wenn die Gegenwart nur ein Schatten der Vergangenheit …«
»Ist sie aber nicht, und es spielt keine Rolle mehr, warum ich gekommen bin oder warum sie mich geschickt haben«, sie streicht mir die Haare aus der Stirn wie in Gursuf im Strandkorb und lächelt. »Fest steht, dass ich dich nicht holen kann, das müsstest du schon selbst tun.«
»Kannst du meinen Kittel wieder ausziehen, bitte, und dich auf mich setzen?«
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Na, weil«, sie dreht verwundert den Kopf nach links und rechts, »da draußen lauter Leute rumlaufen.«
»Ja, aber wenn etwas wirklich Wichtiges geschieht, guckt hier keiner, wirklich nicht, und das nicht aus Unverstand, sondern aus feiner Klugheit, so ist das hier.«
»Ah ja, und die Kamera da oben hinter deinem Kopf?«
»Ach, die ist nur für mich, kleine Haltungskorrekturen, meine Weisen-Posen sind
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