Heimliche Helden
ist aber ein nicht weiter auffälliger Zustand für den aus heutiger Sicht nicht ausindividualisierten Helden. Er ist es gewohnt, sich in andere zu verlängern, und wird körperlich sehr viel radikaler identisch mit seinem Stellvertreter, als wir uns gemeinhin vorstellen. Man ahnt es in Szenen wie jener auf Brünhildes Bett, und sieht es deutlich in Kampfbeschreibungen des Liedes , wenn man einmal darauf aufmerksam geworden ist. Immer erscheint der Held mit anderen Recken. Sie sind nicht nur Staffage, sondern Teil seines kollektiven Körpers – sind echter Körper. Das geht so weit, dass auch Hagen am Ende aus dem Nichts eine Spiegelfigur zukommt: Volker, ein rücksichtsloser Kämpfer, dessen Fidelbogen sich in ein grausames Schwert verwandelt, wird geradezu herbeigezaubert. Jeder Held stellt seinen Körper noch einmal außerhalb seiner auf.
Ganz anders die Frauen. Brünhilde und Kriemhild werden um die exakte Unterscheidung der Männer kämpfen.
Brünhilde, dreifach besiegt, folgt den Regeln und zieht als Braut mit Gunther nach Worms. Auch Gunther hält sein (geheimes) Versprechen, eine doppelte Hochzeit findet statt. Die neue Königin allerdings fragt sich, warum der untergeordnete Siegfried die Schwester des Königs zur Frau nehmen darf. Als Gunther sich der Isländerin in der Brautnacht nähert, testet sie seine Kraft:
Dô rang er nâch ir minneunt zerfúort ir diu kleit.
dô greif nâch einem gürteldiu hêrlîche meit
daz was ein starker porte,den si úmb ir sîten truoc.
dô tet si dem künigegrôzer léidé genuoc.
Di füeze unt ouch die hendesi im zesamne bant
si truoc in z’einem nageleunt hienc in an die want
do er sie slâfes irte.die minne si im verbôt.
jâ het er von ir kreftevil nâch gewúnnén den tôt. 3
An der Wand zappelnd verbringt Gunther die Nacht. Brünhild lässt ihn hängen, so hat sie Ruhe vor seinen Zudringlichkeiten. Nur weil es auch für ihr Ansehen schädlich wäre, sähe der Hof den König am Nagel, nimmt sie den Unfähigen im Morgengrauen wieder ab.
Danach ist der Mann, wen wundert es, deprimiert. Das liet indes zieht die Schlinge zu: Allein Siegfried nimmt Gunthers Gemütszustand wahr, nur Siegfried kann sich vorstellen, was geschehen ist. Er spricht Gunther an. Ein Plan für die zweite Nacht wird ausgeheckt.
Was dann passiert, wissen wir. Und wissen, wie das Nibelungenlied ›Wissen‹ denkt. Es liegt weder an mangelnder Erzählkompetenz des Nibelungenautors noch an Unaufmerksamkeiten seiner Rezipienten, wenn sich am Ende Gunther und Siegfried als Täter und Beobachter, als Held und Mitheld nicht auseinanderhalten lassen. Eben diese irritierende, im Dunkeln inszenierte Ungeschiedenheit der beiden ist Teil der Fremdheit der mittelalterlichen Ich- und Körperwelt. Die Grenzen des Helden sind flüssiger als die anderer. Er ist eine Kompositfigur, die Tarnkappe und ihre Zwölf-Recken-Kraft setzen sich ihm in der Kampfszene zu. Auch dies ist wörtlich-körperlich zu verstehen: Siegfried und die Tarnkappe verschmelzen, die Kraft von zwölf Männern wandert in seine Muskeln, seine Sehnen, seinen Kopf. Der Held ist immer ein Stück Künstlichkeit, aber mit Organen und Stoffwechsel. Ein Mischwesen aus Ich und Anderem, eine bizarre, fremde Erscheinung. Extrem animiert, ein Avatar aus Fleisch und Blut.
Virus und Held
Als die Könige von Sachsen und Dänemark Gunther den Krieg erklären, zeigt sich, dass die Wormser Strategie, friedlich in Abschottung zu leben, nicht aufgeht. Man muss sich zu verteidigen wissen. Siegfried führt die Burgunder zum Sieg. An seiner Seite kämpfen Gunthers Gefolgsleute – die Brüder des Königs und Hagen. Wie Siegfried tragen sie das Risiko, verletzt oder getötet zu werden. Gunther hingegen, der König, hat mindestens zwei Körper: den weltlichen »Leib«, der krank werden kann, sich vermehrt, sichtbar ist. Und den symbolischen Heilsleib, das von Gott eingesetzte Herrschertum. Er ist Repräsentant einer Ordnung, ein (menschlicher) Bienen-König, geschützt im Bau. Seine Funktion ist nicht Kampf, sondern Existenz.
Da kriecht ihm etwas wie Heldentum in den Kopf. Siegfrieds Hilfe und Kompetenz in der Reckenwelt verführen ihn, sich ebenfalls auf diesem Terrain zu versuchen: So wählt er die einzige Frau, die als Brautwerbungsmittel den Kampf verlangt. Der Gatte, der dieser »Heldin« passte, wäre Siegfried. Das Nibelungenlied ist auch die Geschichte eines Missmatchings. Über die Figur Gunthers wirkt es sich fatal aus: Der König stellt sich in eine
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