Heimliche Helden
erhalten.
Auch als ›recke‹ beweist er sich: Der ausgezeichnete Kämpfer steht im Sachsenkrieg sowie später seinen Mann. Er ist selbst ein Herrscher, eingesponnen in das Verwandten- und Lehnsnetz des Wormser Hofes an zweithöchster Stelle. Aber während Gunther in der Königsrolle fast erstarrt und Siegfrieds Frauenbegehren imitiert, folgt Hagen einer anderen Spiel-Routine. Er hat sich auf Daten spezialisiert – seine Intrigen und Pläne kreisen immer darum, ein Wissensungleichgewicht zu schaffen und zu nutzen. Er möchte erfahren, was andere nicht wissen, er sorgt für Geheimnisse und »Unsichtbarkeiten«, für schiefe Verhältnisse von Wirklichkeit, Anschein und Trug. Kriemhild luchst er das Geheimnis ab, wo Siegfrieds schwache Stelle liegt. Den Nibelungenschatz versenkt er an einer verborgenen Stelle im Rhein.
Zunächst geht das wunderbar glatt. Gunther bekommt seine Braut, Siegfried ebenso. Das Datengeschäft indes ist riskant. Im Gespräch der Frauen hat Hagen nichts zu sagen. Sie tauschen Informationen aus, über die er nicht verfügt. Hier wurde um etwas ein Geheimnis gemacht, auch vor ihm.
Siegfried selbst hat für die Zeichen gesorgt, Gürtel und Ring.
Doch warum? Wie kam er darauf?
Das Lied erzählt den Vorgang, ohne ihn weiter zu kommentieren. Die Antwort findet man, wenn man auf die Verflechtungen der Figuren miteinander achtet. Siegfried muss in den letzten Kampfesaugenblicken in Brünhildes Gemach, bei Anwesenheit Gunthers, ein Gedanke an die Rolle des soeben Geschehenen in der Zukunft durch den Kopf gegangen sein. Auch er ist »angesteckt«; über ein Jahr hinweg hat er Hagen beobachtet und gesehen, wie sich aus Informationen und ihrer Verarbeitung Macht ergibt. Siegfried ist aufmerksam geworden auf die Wirksamkeit von Zeichen. Gürtel und Ring verwandeln sich durch die Entfernung aus Brünhildes Zimmer von einfachen Dingen in Zeichen. Danach weiß der Schwertrecke nicht recht weiter, er ist ein Anfänger, was Datenmanagement angeht. So schenkt er die keineswegs mehr harmlosen Dinge seiner Frau Kriemhild als wären sie weiterhin einfach Gürtel und Ring. Siegfried errötet im Nibelungenlied , er erbleicht, leidet ›minneclich‹, kämpft. Wütend wird er als Recke und Mann, er verprügelt Kriemhild, weil sie Brünhilde schmähte. Für alles andere haben weder er noch das Epos Worte. Aber in den Taten zeigen sich Veränderungen der Figuren, in den Taten spitzen sie hervor.
… und als Terrorist
Als Kriemhild, die Siegfrieds Tod nicht vergisst, ihre Brüder an Etzels Hof einlädt, machen die Burgunder denselben Fehler wie Kriemhild und ihr Mann 23 Jahre zuvor: Sie folgen dem Ruf. Auf der Reise geschieht Merkwürdiges mit Hagen. Ausgerechnet er, Herr der Information, wird zum Spielball von Zeichen. Nixen erzählen ihm, was er nicht wissen will: keiner der Burgunder – das Lied nennt sie jetzt manchmal Nibelungen – wird Worms wiedersehen.
Die Konzepte Kampf und Denken, Kampf und List geraten aneinander. Aus dem positiven Helden Hagen wird eine destruktive Figur. Bei der Fahrt über die Donau wirft er den Kaplan ins Wasser, um die Prophezeiung zu widerlegen, der Kaplan werde als Einziger die Reise ins Ungarland überleben. Vergebens: Der Mann, der nicht schwimmen kann, wird von Gottes Kraft ans Ufer gerettet. Indem Hagen versucht, der Prophezeiung zu entkommen, setzt er die Prophezeiung um. Von nun an agiert Gunthers Onkel fatalistisch. Er weiß, dass sein Leben verloren ist, kämpft wie ein Berserker und reißt mit, wen er mitreißen kann.
Was für ein Held ist einer, der zur Kampfmaschine wird und aus Jähzorn tötet, aus Überschuss?
Bei einem ersten Angriff der Hunnen auf die Burgunder stürmt Hagen in die Halle, in der König Etzel und die seinen soeben tafeln, und zieht sein Schwert. Ohne jede Vorwarnung schlägt er Kriemhilds zweitem Sohn, dem Prinzen der Hunnen, den Kopf ab. Tötet noch den Lehrer des Jungen. Trennt dem nebenstehenden Spielmann die rechte Hand vom Arm.
Hagen erscheint als Selbstmordattentäter avant la lettre.
Der abgeschlagene Kopf des kleinen Ortlieb springt in Kriemhilds Schoß.
Verbündete und Helfershelfer, neue Figuren betreten die Szene. Kriemhild lässt die Halle, in die die Burgunder sich flüchteten, in Brand stecken. Sie sind verloren, kämpfen dennoch. Hagen entwickelt eine Amokmentalität. Die von ihm angeführten Schlachten sind Akte der Selbstzerstörung, jedes Mal sterben Hunderte von Männern auf beiden Seiten. Da liegen die Burgunder hinter
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