Heimliche Helden
Feuerwänden auf Toten, trinken Blut, ersticken, platzen.
Das Nibelungenepos könnte in der Wirklichkeit seiner Zeit ähnlich gewirkt haben wie ein Computerspiel heute. Der Austausch zwischen Rolle und Gefühl scheint aus jetziger Perspektive bei den Nibelungenfiguren gestört. Die höfische Wirklichkeit zu Beginn des 13. Jahrhunderts war in weiten Teilen auf für uns schwer nachzuvollziehende Weise organisiert. Dem Tod kommt eine andere Bedeutung zu, wenn man sicher in Himmel oder Hölle aufgehoben wird. Der Wirklichkeit der Burg kommt ein anderer Stellenwert zu, wenn man nicht weiß, was außerhalb ihrer Mauern liegt. Wenn Wald gleich Elend gleich Wüste gleich Einsamkeit gleich Untergang heißt. Wenn die Welt voller Wesen steckt: Drachen, Zwerge, Riesen, Geister. Wenn man selbst nicht allein sein kann, kein Subjekt ist, bestenfalls ein Ich. Wenn die Welt flach ist, und die Sonne um sie kreist. Wenn die Willkür eines Herrschers dich sofort vernichten kann. Wenn ein entzündeter Kratzer dein Untergang ist. Wenn du so kurz lebst, dass du kaum blühst. Wenn es wenig Möglichkeiten, Ablenkungen, Erfindungen gibt. Wenn du nicht lesen, nicht schreiben, aber hören kannst. Wenn in der Welt, die du bewohnst, die am Abend erzählten mæren rasch wechseln vorm Feuer. Wenn der nächste Zahnschmerz dich vom Leben trennt.
Leben zu Zeiten der Ungeschiedenheit
»Scheide« ist ein lohnenswertes Wort im Deutschen. Zum einen fährt das Schwert in seine Scheide und lehnt sich dabei an die Anatomie von Mann und Frau – symbolisch, bildlich und psychomotorisch reichlich direkt; zum anderen führt das Wort ›scheiden‹ in ein diffiziles Gebiet, mit dem sich alle Figuren des Nibelungenliedes schwertun. Das mittelhochdeutsche ›scheiden‹ bedeutet ›unterscheiden‹, es meint wahrnehmen und differenzieren können. Die Urteilskraft scheidet: Sie trennt Ähnliches, stellt Unterschiede fest, fällt Urteile. Es ist sprachklug, wenn ›scheiden‹ im Mittelhochdeutschen daher auch ›schlichten‹ heißt. Nur wer zu unterscheiden versteht, kann Lösungen finden, die Kämpfe unterbinden.
Im Nibelungenlied geschieht das Gegenteil. Immer mächtiger greift Ununterscheidbarkeit Platz. Das Wort »scheiden« fällt an ent-scheidender Stelle, als König Gunther sich zum ersten Mal selbst in einen Kampf mischt. Er erkennt, dass nichts mehr zu schlichten, nichts mehr zu beruhigen ist (Strophe 1968).
Das wildgewordene Zeichen- und Schwertschleudersystem Hagen hat ganze Arbeit geleistet. Der König selbst muss sein Leben riskieren – und verlieren. Die Unterscheidung seines Körpers von den ›mannen‹ sowie die Unterscheidung zwischen seinem leiblichen und spirituellen Körper sind hinfällig. Grund für diese Zerstörung der Unterschiede, der garantierten Ordnungen und der Lebensmöglichkeit ist die Un-Unterscheidbarkeit, die Hagen anwandelt, kaum ist die Fahrt zu Etzel und Kriemhild ins Ungarland beschlossene Sache.
Man versteht diese Un-Unterscheidbarkeit erst, wenn man die allmähliche Herausbildung von Individualität zur Entstehungszeit des Nibelungenliedes bedenkt. Innerhalb der Rolle gleicht jeder dem anderen, aber dank der höfischen Kultur differenzieren Rollen sich. Neues muss erfunden werden, es kommt zu Überlagerungen von Sichtbarem und Unsichtbarem (die zwei Körper des Königs). Hagen macht sich zum Fürsprecher der verlorenen Ehre Brünhildes und zum ökonomischen Wart seines Königs. Er macht sich zum exklusiven Schatzhüter, indem er dafür sorgt, dass der Nibelungenhort im Rhein versenkt wird. Als die Boten Etzels im Hof von Worms einreiten, wird Hagen wie einst im Fall Siegfrieds befragt, um wen es sich handeln könnte. Die Informations- und Vernetzungsmaschine funktioniert ein letztes Mal. Dann steigert sie sich: Sie wird zu einer überempfindlichen Antenne, zum Empfangspool geheimer Nachrichten.
Ab nun stürzen Zeichen auf Hagen ein. Er spricht mit Donaunixen, agiert. Der interessantesten Struktur der Un-Unterscheidungen begegnen wir in der Prophezeiung, die er in dem Versuch, ihr zu entrinnen, vollzieht. Schon davor ist ihm das Unterscheiden abhandengekommen: Er lockt den Fährmann mit einer List herbei, schlägt ihm den Kopf ab. Gunther ist entsetzt, Hagen leugnet die Tat, macht sich selbst zum Fährmann und hackt nach der Überfahrt den Nachen in Stücke. Erneut setzt er das »Schicksal« der Nichtrückkehr, den Untergang aller Burgunder, in Szene.
Die Nibelungen – ein Heldenideal, das aus dem Ruder lief.
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