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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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Der Kalender denkt daran und verspricht ein Darüberhinaus. Die von ihm begleiteten Lebenstage wandeln in ihm tröstlich im Kreis. Das nächste Jahr beginnt; wer aber den alten Kalender liest, also die gelebte Zeit zu seinen Schätzen zählt, kann das eigene vergangene Leben und die Leben der Figuren, von denen er erzählt, für sich bewahren.
    Richtet man das Augenmerk darauf, entdeckt man Kästchen in Hebels Erzählungen, Anekdoten und fiktiven Berichten überall. Geradezu endemisch mischen Behältnisse jeder Art sich ins Menschengeschehen ein: Betten, Kutschen, Dosen, Gasthäuser, Schlösser, Keller. Hinein, heraus. Gefährlich sind auch hier die Übergänge. Da zieht man sich besser gut an, selbst im Bett, wie die Geschichte Der vorsichtige Träumer mit wacher Logik erzählt.
    Der Rheinländische Hausfreund ist belehrend und komisch, wirklich und paradox. Er feiert das Vergehen der Zeit, treibt sie vor sich her, hält sie fest. Jeder kennt das Gefühl, die Woche oder den Monat umzublättern. Die Zeit ist tot, es lebe die Zeit. Sie ist der Held seines Projektes, seines Erzählens.
    Hebels Kalender wendet sich in Übereinstimmung mit der Gattung an alle. Bauern und Bürger, Unterhaltung für das Volk. Die Natur und ihre Veränderungen spielen eine prominente Rolle, Anekdoten, Sagenhaftes, Halbmythisches, Althergebrachtes. Klerus und Adel dürfen nicht fehlen, ebenso wenig fehlen der Soldat und das Gespenst. Der Rheinländische Hausfreund ist ein modernes, umweltorientiertes Katastrophenprojekt, kurz, pointiert, das etwas Wissen und reichlich Unterhaltung bietet, indem es von Rohstoffen handelt, von der Liebe und vom Krieg. Das Kriegen spielt dabei mindestens doppelt eine Rolle: geschickt treiben der findige Räuber Zundelfrieder und seine Gesellen ihr Wesen. Andere Erzählungen stellen den dumm-dreisten Soldaten auf die Bühne. Der Bauerntölpel, der in Kannitverstan nach Amsterdam wandert, aber lieber Limburger Käse isst, scheint ihnen verwandt. Wer Glück hat, versteht etwas, das sonst keiner versteht, weil er nicht wirklich versteht, was geschieht.
    Hebels menschliche Helden agieren komisch bis grotesk. Wenn ihnen etwas gelingt, dann trotz ihrer selbst. Der Kalender ist ein frühes Buch der Rekorde (Überquerung des Ärmelkanals), des Glaubens (stundenlanges Balancieren über einem Fluss), vor allem aber des menschlichen Charakters. Er verzeichnet nicht Tage, sondern Zusammenhänge. Er betont das Sammeln und Festhalten. Die berühmteste seiner Erzählungen ( Unverhofftes Wiedersehen ), eine Anekdote mit Orts- und Zeitangabe, eine Nachricht also, ganz Meldung aus der wirklichen Welt, handelt eben davon: dass etwas vergeht, aber wiederkehrt. Ein Gespenst besonderer Art wird aus der Erde geborgen, die Leiche eines schönen jungen Mannes. Seine Verlobte, inzwischen eine alte Frau, betrachtet ihn. Frisch wie an dem Tag, an dem er kurz vor der Hochzeit im Berg verschüttet wurde, liegt er ihr in Vitriol konserviert zu Füßen. 50 Jahre sind vergangen, in der Erzählung werden sie anhand großer Geschichtsdaten überflogen wie mit einer Kamera. So sieht die ehemalige Braut, verhutzelt, hinfällig, den jungen Verlorenen; der Leser hingegen sieht beide Figuren vor sich: welch fast noch barockes Lebens-Bild, eingebettet in die Geschichte und Maschinenwelt des frühen 19. Jahrhunderts.
    Es erzählt, was Zeit an Körpern tut. Wie wir zugleich in ihnen, den Körpern, und in ihr, der Zeit, leben. Wie, wenn die Zeit stehen bleibt, nicht einmal der Tod mehr wirklich ist.
    Denn erst nun, nach der Bergung, erhält der Verlobte ein Grab. Vordergründig berichtet Hebel von einem unheimlichen Wiedersehen mit überromantischem Ende (bald will die Braut dem kalten Bräutigam unter die Erde folgen). Tatsächlich ist das Ende kalt, Hebels Erzählung folgt einem anderen Faden. Zum Schluss löst »die ewige Leiche« sich auf: Sie ist das gespenstische Bild jener Unwirklichkeit, in die wir geraten, wenn Zeit einmal wirklich, für uns, stillgestellt wird. Hebels Kalendergeschichte hingegen setzt, einem Kalender gemäß, die Zeit durch Erzählung wieder in ihr Recht.
    Gespenster ziehen den Kalendermann Hebel mächtig an. Oft heißt es, aus aufklärerischem Impuls habe der Autor seinen Lesern beweisen wollte, dass die spukenden Wesen nichts als menschliche Erfindungen seien. Diese sehr »korrekte« Interpretation bleibt, ihrerseits rational, auf der Ebene der Absichten stehen. Liest man die Erzählungen hingegen neu, zählt und liebt ihre

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