Heimliche Helden
wieder. Dazu eine Schrift, die umständlich und mit viel Gepränge falsches Seelenheil kundtut. Der Blitz aber schmilzt das Erz und erzählt die Geschichte um: Er ist ein Anagrammatiker. 15 Buchstaben bleiben, ein Ausrufezeichen: Sie ist gerichtet!
Erstaunlich: ein Ausrufezeichen in der Grabschrift? Es stammt von Kleist, der es setzt, um wie mit dem Bindestrich der Marquise auf den Zeichenprozess zu weisen. Das unwahrscheinliche Zeichen reißt den Rest der neu gelesenen Inschrift mit. Tatsächlich steht das auch im Text, wenn man genau liest: »die zusammen gelesen also lauteten«. Das tut, als lese niemand, sondern als fügten die Buchstaben sich selbst aneinander. Doch wie sieht der Grabstein aus: Das Erz ist geschmolzen, ein paar Kanten und Ecken sind stehen geblieben. Brav als Satz in einer Reihe? Oder hat da jemand für uns mit Hilfe eines Blitzes die Zeichen zusammengefügt, und das Ausrufezeichen hinzu.
Sodass wir uns erneut im Zwischenreich der Deutungen finden: Glauben? Nicht glauben? Durchschauen? Zweifeln am Durchschauen?
Der Blitz erscheint als Kraft, die verschiebt. Er ist Kleists Zeichen für Fiktion. Manchmal heißt es, dieser Autor entfalte eine Welt, die flüchtig geworden sei und ungewiss. Das ist zu ungenau. Er entfaltet eine in Teile zersprengte Welt, die bewusst und unter riesenhaften Anstrengungen neu zusammengesetzt werden muss. Das ist auch größenwahnsinnig, egoman. Kleist spielt mit uns. Die Schriftgelehrten erklären, er zwinkert. Hält uns die alte Erzählbeglaubigung »und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen« hin, wie man dem Esel die Möhre vor die Nase hängt.
Seligkeit?
Satzkaskaden baute er wie kaum ein Zweiter. Beherrschte die Rhetorik und stolperte gleichwohl, als trüge er Schuhe mit falschen Absätzen. Das Stocken und Nichtsprechen-Können: in Sätzen. Das Ver-Sagen. In Sätzen. In Körperzeichen. Er weiß seine Figuren so zu kleiden, dass sich alle Farben beißen. Auch die Marquise, ein scheinbar naives, unmündiges Wesen, verwandelt sich. Am Ende, am Dritten, ist ausgerechnet sie der Wetterstrahl. Spritzt, handelt, verbannt. Da steht sie auf der Bühne, die sie sich selbst zu bereiten verstand: als hochschwangerer Mann.
Da kann man Kleist lachen hören.
Wer seine Figuren sind? Alle falsch. Anagramme greifen nach ihnen, man denke an den Findling . An die Söhne im Erdbeben . Das eine Menschlein ersetzt das andere. Und ist gerade so gut wie das erste. Oder nicht?
Eben dies lässt sich nicht sagen.
Kleist schreibt zu einer Zeit, als das Individuum, wie wir es kennen, im Gefolge der Französischen Revolution als Rechts- und Freiheitssubjekt erst erfunden wird. Herausgeschält in den Diskursen der Medizin, Wissenschaften, der Jurisprudenz, der Philosophie. Und der Literatur.
Kleists Welt und ihre Figuren rotieren, formen sich, doch der Einheitsschoß ist noch nah. Lange wurde der in der Marquise geschilderte Inzest übersehen. Gewiss, wir gehen der Obristin auf den Leim; das reicht indes nicht, um dieses Übersehen wirklich zu erklären. Ich habe einen anderen Verdacht: Der Inzest Vater-Marquise wurde wenig beachtet, weil er tatsächlich wenig skandalös ist. Er ist kein psychologisches Drama, sondern ein mentalitätsgeschichtliches Bild. Der – Seligkeit.
Die Obristin hat recht: Tochter und Vater als eine Figur bilden eine Form, die den alten »Schoß« zeigt, die Nicht-Individuation. Es ist für uns nicht einfach, solch eine Szene nicht-missbräuchlich zu lesen. Die Alternative heißt: lesen in Bezug auf ein Kollektiv. Je länger ich über die Marquise nachdenke, umso deutlicher erscheint mir das Kollektiv als ihr eigentliches Subjekt. Subjekt ist dabei erneut doppelt gemeint: sowohl als handelnde Instanz als auch als Thema. Sein Mund ist die Zeitung. Mit dem Sprechen seines Mundes beginnt die Erzählung. Von Lösungen der Marquise aus der Herkunftsfamilie, aus der sie bereits einmal gelöst wurde, und ihrem Übergang in die Gründung einer nächsten Familie handelt die Novelle. In beiden Familien, in beiden Sozialfeldern, scheint die Figur jeweils sicher, gefährlich sind die Zwischenräume. An ihnen stehen Heere, Zeitungen – weitere Kollektivorgane.
So kehrt das Heldenthema hier wieder: Der Held ist weiblich. Eingespannt in die Kräfte zwischen dem Gemeinwesen (und seinen Forderungen an den Einzelnen) und eigene Triebe. Mit einem Innenleben, das sich windet und versteckt, das durchbricht, und doch nur in den Mustern der
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