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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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Gesellschaft, der Religion (Engel und Teufel) und in gegenseitigen Projektionen erscheinen kann.
    So kehrt das Heldenthema hier wieder: gebeugt in den familiär-sozialen Raum, geschmiegt an die Schnittstellen weiblicher und männlicher Rollenmuster. Der Graf hält in der ersten Szene die Marquise im Arm, aber ihr Ich ist nicht da, wenn wir ihr glauben wollen. Anwesend ist allein der Körper. Als sie zu handeln beginnt, kehrt das Geschehen sich allmählich um. Paradox, komisch und provokant steht sie am Ende als Überkreuzung körperlicher (hochschwanger) und sozialer (handelt männlich) Leiden in der Tür.
    Die Marquise und der Graf begegnen einander, jeder ganz Rollenklischee (Ohnmacht, Vergewaltigung), bewegen sich aufeinander zu, tauschen Position, und werden allmählich an ihre »richtigen« gesellschaftlichen Plätze gestellt (produktives Ehepaar). Immer wieder ist der Einzelne von Einsaugung bedroht bzw. angelockt. Lange Zeit lebt die Marquise nur in Übergängen zwischen Ohnmachten (Nicht-mehr-da-Sein) und Zwischenrollen (schwanger, aber ohne Schwängerung; verheiratet, aber nur formal).
    Kleists Marquise ist ein Schlüsseltext: Männer- und Frauenrollen werden gewaltsam aufeinander zugeschoben. Körperliche Zeichen, Erinnerung und Sprache klaffen auseinander. Ein Schlüsseltext für die Novelle, die als Gattung in der deutschen Literatur zur Zeit Kleists sehr jung ist. Erst Goethe und Schiller führten sie um 1800 ins Deutsche ein. Dass sie virulent wird, verdankt sich der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen, den Staats-, Denk- und Ichbedingungen der Zeit.
    Die Novelle macht Proben darauf, in welchen Räumen das Subjekt als Individuum entsteht, wo und wie es sich entwickelt, wer es sichert. Auf der Handlungsebene ist ihr unerhörtes Ereignis ein Akt des Übergriffes, mentalitätsgeschichtlich ist es ein weibliches und männliches Ich. Das Thema lässt sich durch die Novellistik des 19. Jahrhundert verfolgen, Verführungsszenarien häufen sich. In ihnen wird vor den bewegten Wänden Nahrung, Sexualität und Kunst nach dem Ich getastet.
    Bei Kleist ist dieses Ich stets mit Körper vorgestellt. Selbstverständlich wird es sich, vielleicht gerade deswegen, nicht. Cherubim, Teufel, Vieh: das andere Geschlecht. Und man selbst?
    Letzte Silben
    Vor Kurzem riss mein Hund sich im Park ein großes Stück Fleisch aus dem Ohr. Das Stück fand ich nicht mehr. Das restliche Ohr blutete stark, hell, arteriell. Das Tier tropfte, als es mich erreichte. Ich hatte ein Taschentuch. Lächerlich. Nahm mein Stirnband. Das Tier meinte, wenn es feucht wird im Ohr, schüttelt man sich. Meine Hände waren voller Blut, meine Hose, mein Mantel, und wie ich eine halbe Stunde später beim Tierarzt sah, auch mein Gesicht. Ich nahm den Hund an die Leine, wickelte ihm meinen Schal um den Kopf, wir rannten durch den Park zurück zum Auto. 20 Minuten Fahrt. Ich saß da, und roch. Meine Hände überzog bis zu den Armgelenken angetrocknetes Blut. Wie Handschuhe. Eine Glasur. So hatte ich mir das nie vorgestellt, geschweige denn es gefühlt.
    Während Blut trocknet, wird es klebrig nach außen; wenn es trocken ist, riecht es noch immer süßlich, auch nach Eisen, und beginnt, nach innen zu kleben. Als habe man Lack auf der Haut. Ich nahm über die Hände keinen Sauerstoff mehr auf, das Blut schloss mich ein. Für Sekunden verstand ich, wie es einen Rausch auszulösen vermag. Es löscht die Abdrücke der Finger. Ein Stück Individualität. Wird eine Rüstung eigener Art.
    Ich dachte an Schlachten. Kleist kannte das. Und wie es ist, wenn man einmal an diesem Haken hängt? Die Gesetze am eigenen Leib erfahren hat, die das Töten erlauben?
    Kleist, am Ende.
    Pionierpflanzen müssen kleistogam sein, sonst überleben sie nicht. Wer sich nicht selbst voranbringt, dem ist nicht zu helfen. Hat Kleist am Ende nichts geholfen?
    Auch das probierte er aus – doppelt, wie anders. 17 Duelle nahm der Dichter Puschkin an; an den Folgen des letzten starb er. Für Kleist ist der Zweierraum gefährlich. Ein Duell hat Adjutanten, Zeugen. Der Doppeltod mit Henriette Vogel nicht.
    Manche meinen, Menschen ließen sich einteilen in solche, die töten, und jene, die sterben. Kleists Ende folgt dem nicht. Extremist Kleist. Das runde Gesicht. Der letzte Text: eine exaltierte Namensliste auf Henriette Vogel. Gewalt und Träume von Ordnung. Ein Pionier.
    Der andere ist ein Mensch.
    Heinrich von Kleist: Was offen und geschlossen blüht. Letzteres ein

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