Heimliche Helden
zur Gruppe der Besiegten gehört, ist es gewohnt, sich zu ducken, und spricht noch weniger als sonst. Nur einmal sagt einer, leise, nun sei es des Feierns genug.
Das Kriegsrecht ist nicht aufgehoben. Man kann, sagt der Mann, der zur Minderheit gehört, aus dem Auto geholt und von den Soldaten am Straßenrand erschossen werden. Man kann ohne Haftbefehl ins Gefängnis kommen und dort vergessen werden.
Schweigend sitzen die Menschen vor den Fernsehapparaten. Bilder aus dem Parlament, ein Präsident ganz in Weiß, als Friedensbringer inszeniert. Lächelnd, unschuldig nahezu. Ich höre Reden nach dem Krieg, die ich nicht verstehe.
Abends, als der indische Kuckuck nicht mehr schreit und die gestreiften Hörnchen, die ständig über die Elektroleitungen turnen, zu schlafen scheinen, als die kleine Gartenschildkröte den Kopf hebt und sich langsam unter ihrem gemusterten Panzer in Bewegung setzt auf jene Kokospalme zu, die bald gefällt werden muss, damit ihre Früchte niemanden im Garten erschlagen, denke ich über Hans Joachim Schädlichs Roman Anders nach. In kaleidoskopisch angeordneten Geschichten zeigt Anders auf, zu welchen Lügen und Identitätserfindungen Leben nach einem zerstörerischen Krieg »inspiriert«, wie lange die Situation des Nachkrieges andauern kann – nicht (nur) auf der politischen Bühne, sondern mitten in der Gesellschaft, bei jedem von uns.
Anders ist ein ungewöhnlicher Roman: kurz, dialogisch, dicht. Exakt auf der Grenze zwischen Sein und Schein setzt das feine Erzählgewebe ein, das vom Projekt zweier soeben pensionierter Männer handelt. Der Ich-Erzähler und »sein letzter Freund« Awa erzählen sich recherchierte Geschichten zum Thema falsche Identitäten. Dazwischen stellt der Autor Schädlich ebensolche Geschichten aus dem unmittelbaren Lebensumfeld der beiden Figuren. Beide lieben eine offensichtlich aus Ostdeutschland stammende Frau, beide waren Wetterkundler, also Menschen, die sich der Berechenbarkeit der nächsten Zukunft widmeten. Bald schlingt Anders deutsche Historie, Prognosen, globale Katastrophen und Texturen des 20. Jahrhunderts in knappen Kapiteln, jedes luzide und spannend, so umeinander, dass sich aus Doppelungen und Wiederholungen ein zunehmend irrwitzig anmutendes Spiegelkabinett ergibt.
Schädlichs Roman zeigt Lügenhelden. Das Leben nach dem Krieg, das weit über die sogenannte Nachkriegszeit hinausreicht, hat größte Erfindungskräfte freigesetzt. In mehrfacher Hinsicht wird Anders zu einem Stück »Helden«-Literatur. Es untersucht das Weiterleben des Helden nach der Implosion des Heldenbegriffes am Ende des Zweiten Weltkrieges. Es beruht zum einen auf Faktenrecherchen: eine Geschichte aus dem Konzentrationslager Buchenwald und über die Aufbereitung der Befreiung dieses Lagers in der DDR ; neue Daten zu einem SS-Täter und seiner zweiten Identität in der BRD ; ein bissiger Bericht über den kleinwüchsigen Dschidschi, der groß wird als Rechtsanwalt zu DDR -Zeiten und als Politiker noch einmal nach 1989 (über die Initialen GG, auf Englisch »Dschidschi«, ist er leicht zu identifizieren). Man erkennt historische Konstellationen, lässt sich überraschen von Zusammenhängen und Details, ist gebannt.
Zum zweiten zeigt Anders eine Männerwelt, in der sich nur im Erzählen enthüllt, wer wer ist. Nicht primär Handlung, sondern geschickte, verstellte Rede bestimmt die Lebensgänge. Das Erzählen selbst bleibt flüssig: Namen, Identitäten, Verwechslungen umspielen einander auf engstem Raum. Der Roman spitzt die intrikate Liaison von »bist du, was du scheinst« und »scheinst du, was du wirst« zu, indem er vorwiegend im Modus der direkten Rede erzählt wird. Die pensionierten Meteorologen führen ein Gespräch, es enthält Kommentare zu ihren eigenen Geschichten, zur Verständigung untereinander. Man streitet, man wetteifert, man ärgert sich und braucht sich doch. So handelt der Roman in aller Kürze auf vier Ebenen zugleich von Redeakten: Warum haben die Figuren, von denen erzählt wird, ihre erlogenen Geschichten in die Welt gesetzt? Wie lange haben sie sie selbst geglaubt? Warum und wie erzählen die beiden heutigen Figuren sie einander? Und warum und wie bietet der Autor Schädlich sie uns schließlich dar?
Schädlichs Nichtroman-Roman ist ein hervorragendes Beispiel intelligenter politischer Literatur. In die Falle »Engagement oder Nichtengagement« tappt er erst gar nicht. Er handelt auf einer abstrakteren Ebene von Politik, indem er Prozesse der
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