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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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Inbetriebnahme. Seine einstigen Meteorologen mögen anfangs als Helden der Recherche erscheinen. Aufdeckung und Enttarnung haben sie sich auf die Fahne geschrieben. Sie streiten – verbal, sie recherchieren, wie man Lügen erfolgreich erzeugt und aufrechterhält.
    Erst allmählich schälen sich die genauen Konturen des Projektes der Erzähler heraus. Sie berufen sich auf Cicero. Den Satz des Römers: »Wenn wir für das gehalten werden wollen, was wir sind, kommt alles darauf an, dass wir uns tatsächlich auch so geben, wie wir sind …«, formen sie elegant um: »Wir brauchten nur zweimal das Wörtchen »nicht« einzufügen; schon hatten wir die Richtung gefunden, in der wir sammeln wollten …« 88
    Den äußeren Spuren davon, wie Blut-und-Boden-Helden heimliche Helden werden, können die Protagonisten folgen. Awa findet im Fall seines lyrikinteressierten einstigen SA - und SS -Mannes Hans Ernst Schneider auch Persönlicheres heraus, etwa wann die Familie in die neue Identität eingeweiht wurde. Unter dem Namen Schwerte brachte Schneider es in Aachen zum Germanistikprofessor. Die Fragen, wie einer wie Schneider sich fühlte, wenn es ihm gelang, die Öffentlichkeit wieder und wieder geschickt an der Nase herumzuführen, ob er heimlich die alten nationalsozialistischen Ideen pflegte und dabei seine Lügen-Schlauheit genoss, können nur sie stellen.
    Zu einem heimlichen Helden anderer Art mutiert Jerzy Zweig. Der Vierjährige wurde im April 1945 als jüngster Gefangener aus Buchenwald befreit. Angeblich hatten Kommunisten ihn vor dem Tod bewahrt. Die DDR machte daraus eine ideologisch nützliche Heldengeschichte, untermauert durch einen Film. Schädlichs Ich-Figur berichtet, dass das nicht stimmt: Jerzy Zweig wurde zwar gerettet, an seiner Stelle aber musste ein Roma-Junge ins Gas.
    Wie ist es nun um die »Rettung« bestellt? Ist das Überleben Zweigs plötzlich schlechter oder »weniger wert«, weil der Knabe Blum starb? Wäre dieser Junge nicht »sowieso gestorben«? So verstrickt man sich: Die Fragen beruhen selbst auf falschen Kategorien. Sie sind unmenschlich, sie wägen Menschen gegeneinander. Man gerät in ihr Netz, weil der Mechanismus, mit dem die DDR sich in der Buchenwald-Rettungsgeschichte von Verantwortung entlasten wollte, selbst nicht anders war: Auch er rechnete Leben auf.
    Damit nicht genug. Überraschenderweise setzt der Ich-Erzähler seine Buchenwaldrecherche im nächsten Kapitel fort. Er fragt nach dem späteren Werdegang des geretteten Kindes Zweig. Er sucht zu verstehen und stößt auf einen Menschen, der noch heute die fiktive ( DDR )-Geschichte glaubt. Der seine Identität darauf gegründet hat.
    Jemand hält aus schmerzlicher Angst vor der »Wahrheit« an etwas einst Erzähltem fest. Ciceros so prägnanter und einleuchtender Satz scheint darauf nicht mehr zu passen. Identität entzieht sich der Verfügbarkeit; auch dies könnte ein gemeinsamer Nenner aller Nachkriegskurzgeschichten dieses reichen Romans sein. Zweig schreibt Protestbriefe gegen die »Tilgung« seiner DDR -Rettungsgeschichte aus den Gedenktafeln in Buchenwald. Eine Lüge? Verirrung? Bewusstseinsspaltung? Offensichtlich ist Identität viel zu grundlegend aus durchaus heterogenen Schichten zusammengesetzt, um in diese Kategorien zu passen; während des Lesens spürt man, dass unsere kategoriellen Sicherheiten »Lüge« und »Wahrheit«, »Name« und »ich« zu kurz greifen. So führt Schädlichs Buch schließlich an einen Punkt, an dem man begreift, wie Menschen lügen: so sehr, so lange, so sehnsüchtig. »Gut« und »böse« verwirren sich, Sein und Schein werden einander so ähnlich, wie sie es im Deutschen sprachlich immer schon sind.
    Zweigs Gedächtnis wurde usurpiert. Er glaubt an seine »gute« Rettungsgeschichte; sein Festhalten an ihr ist so verständlich wie traurig berührend. Schon als Kind wurde er damit »gefüttert« und auf einen Weg gesetzt, von dem er nun nicht mehr abweichen kann. Welch massive Manipulation, welch Diebstahl eines Lebens. Schädlich beleuchtet hier und, wenn auch indirekter, bei Schwerte/Schneider einen Aspekt des Helden, der gern vergessen wird: Held ist, wer sich sein Leben für die Zwecke anderer nehmen bzw. stehlen lässt.
    Colombo. Das Meer schäumt aufgewühlt, die Bahnlinie, noch von den Briten gebaut, führt direkt am Strand entlang. Auch der dahintuckernde Zug stammt wohl noch unmittelbar aus dem Britischen Empire. Hier unten am gefährlichen Meeressaum wohnen die Ärmsten der Armen.

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