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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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die Technik des Lestrygonen-Kapitels im Ulysses, sagte Joyce. Psychische Regungen erweisen sich als abhängig von physischen Bedürfnissen, das wachsende Hungergefühl des Protagonisten Bloom drückt sich im unwillkürlichen Kreisen seiner Gedanken und Gefühle um Nahrung aus. In Schüben geht es voran, Pause, Ereignis, Pause, Energie. »Peristaltisch«, so hätte Joyce sein eigenes Leben charakterisieren können. Am 2. Februar 1882 als ältestes Kind in eine Dubliner Familie geboren, die über die folgenden Jahre hinweg regelmäßig wuchs – elf lebende Geschwister zählte James schließlich –, und ebenso regelmäßig über weniger Geld verfügte. Umzüge in immer kleinere Wohnungen, sozialer Abstieg, 20 Jahre lang.
    Joyce, James: der wissbegierige, erlebnishungrige Sohn, der sich die Ausbildung durch Stipendien sichert. Joyce, Stanislaus: der mit 42 Jahren frühpensionierte Vater, Schwadroneur, Trinker. Stanislaus und James: Teil einer peristaltischen Vater-Sohn-Beziehung, die ihr Medusa- oder Helenenhaupt in den Büchern des Sohnes recken wird. Der sich in seinem ersten Buch, Porträt des Künstlers als junger Mann, nicht als Ikarus, sondern als Dädalus-Vater stilisiert. Den Netzen des Heimatlandes – Religion und Familie – will der durchaus autobiographisch gefärbte Held durch Schweigen, Exil und Schlauheit entkommen.
    Im wirklichen Leben findet der erste Ausbruchsversuch ein schnelles Ende. Joyce ist 20 Jahre alt, er hat das Dublin University College absolviert, seine literarischen Ambitionen geschärft: Meredith und Hardy, deren Bücher ihrer sexuellen Freizügigkeit wegen umstritten sind, insbesondere Ibsen werden ihm wichtig. Der Symbolismus beeinflusst ihn, bald indes erkennt er, dass er als Lyriker einem Yeats stets unterlegen bleiben wird. Prosaskizzen entstehen. Joyce entdeckt Zola, Flaubert, Dante, Giordano Bruno – Werke, die ihn sein Leben lang begleiten. Im November 1902 verlässt er Dublin, um an der Sorbonne Medizin zu studieren; der langsame Tod seiner Mutter holt ihn schon im April 1903 nach Irland zurück. Joyce-Ikarus lässt sich treiben. Im August stirbt die Mutter. James erwägt eine Karriere als Sänger, doch Anfang 1904 entsteht der Kern des Portraits . Pause, langsame Passage. Dann geht alles überrasch: Am 10.6.1904 spricht Joyce Nora Barnacle auf der Straße an. Am 16.6. treffen sie sich zum ersten Mal. Am 8. Oktober 1904 verlassen sie gemeinsam Dublin. Exil, diesmal endgültig, aber nicht mehr allein. Ein knappes Jahr nach dem Tod der Mutter ist etwas durchtrennt, eine »Stelle« frei, neu zu besetzen im Gleichgewichtssystem eines jungen Mannes, der nach Möglichkeiten zu schreiben sucht, nach Ausdruck und Sprache.
    Am 27.7.1905 wird das erste Kind geboren. Am 3.12.1905 ist das Manuskript der Dubliners fertiggestellt. Zwölf Erzählungen. Umzüge folgen, das Schreiben stockt. Joyce hält sich und die Familie mehr recht als schlecht mit Sprachunterricht, dann als Bankkorrespondent über Wasser. Rom, 1906: Eine Erzählung mit dem Titel Ulysses wird dem Bruder Stanislaus angekündigt. Er, der wie der Vater heißt, ist Joyces engster Vertrauter unter den Geschwistern. Rom, 1906: Joyce fragt sich, wie die Ausübung seiner Kunst mit einem einigermaßen glücklichen Leben zu verbinden sein soll. Frühjahr 1907: Rückkehr nach Triest. Tochter Lucia kommt in der Armenstation eines Spitals zur Welt. Joyce ist krank, Nora schlägt sich als Wäscherin durch. Pause. Stockung. Wer ein Käsebrot so beschreiben kann, wie Joyce im Ulysses , von allen Seiten, in allen Möglichkeiten, zart, auf der Zunge zergehend, mit Geruch, hingebungsvoll, muss es sich oft vorgestellt haben. Im Sommer 1909 werden bei der ersten Reise zurück nach Dublin zahlreiche Figuren des Ulysses konzipiert. Die erneut eintretende Pause in den äußeren Geschehnissen bedeutet nun innere Arbeit. 1913 erscheint das Portrait . Im Juni 1914 können nach neunjährigem Kampf mit dem Verleger auch die Dubliners gedruckt werden – ein Erfolg wider Erwarten. Im Juni 1915 steht die erste Episode des Ulysses auf dem Papier.
    Diesen Schub von Erfolg und Energie unterbrechen äußere Ereignisse: Nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 wird Triest evakuiert. Die Familie Joyce findet Zuflucht in der neutralen Schweiz. Zwischen 1915–1919 entsteht in Zürich der Ulysses , ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung verschiedener Sponsoren. Joyce hat sich von allem Politischen zurückgezogen. Heroismus und Nationalstolz sind

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