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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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und Ceyda den Busen ihrer Mutter an ihrem Kopf spürt, tut Tanja etwas gegen die Angst, sie zerteilt die Zeit mit Worten.
    – Nicht so schlimm, Frau Yolcu, sagt sie, die vom Krankenhaus haben gesagt, dass keine Lebensgefahr besteht. Ceren |104| wird bald zu Hause sein, ein bisschen Schaden und Schrecken ist immer, aber es wird weitergehen.
    Sie hat sich umgedreht zu den beiden, und Gül betrachtet das schmale, faltige Gesicht Tante Tanjas, das zwar etwas kantig ist, aber dennoch Wärme ausstrahlt.
    – Seien Sie froh, es ist ja nicht wie im Krieg. Damals konnten wir nicht anrufen und herauskriegen, wo jemand ist. Da haben Frauen jahrelang auf ihre Männer gewartet, ohne überhaupt zu wissen, ob die noch leben. Frau Yolcu, lächeln. Lächeln Sie doch, Sie sind so eine herzensgute Frau und so jung. Lächeln Sie, es wird nicht schwer werden, das habe ich im Gefühl. Trauen Sie einer alten Frau.
    Gül lächelt, aber nicht weil sie wirklich versteht, was Tanja sagt, sondern weil sie sich freut, dass diese Frau sich kümmert. Weil sie nicht alleine ist. Weil Tante Tanja die Heimstraße mit dem Rest der Welt verbindet.
     
    – Konntest du nicht besser achtgeben?, herrscht Fuat seine Tochter an. Wer hat euch erlaubt, euch so weit von zu Hause zu entfernen? Hast du kein Auge auf sie gehabt? Was hattest du so Dringendes zu tun?
    Ceyda sagt kein Wort, Fuat schenkt sich einen großen Whisky ein und gibt zwei Schlucke Cola drauf. Er schickt Ceyda ins Bett und rüffelt nun Gül:
    – Sie sind noch Grundschulkinder, und du kommst jetzt schon nicht mehr mit ihnen klar.
    – Aber du, sagt Gül, du kommst vorbildlich mit ihnen klar. Wie damals, als du Ceren mit Zahnweh in die Schule geschickt hast. Als würdest du ein Kleinkind überlisten, hast du ihr weisgemacht, du hättest ihr den Zahn gezogen. Und die Lehrerin hat sie nach Hause geschickt, weil sie vor Schmerzen gewimmert hat im Unterricht. Soll ich mich so um die beiden kümmern? Soll ich mir an dir ein Beispiel nehmen?
    – Sie hatte keine Schmerzen mehr, als sie hier los ist.
    |105| – Wir sollten dem Herrn dafür danken, dass Ceren lebt, dass sie wahrscheinlich morgen schon aus dem Krankenhaus entlassen wird, dass sie gesund ist und dass wir hier jeden Tag satt werden. Du solltest dankbar sein für deinen Whisky, für dieses Haus und jenes, das wir in der Türkei bauen. Du solltest dankbar sein und nicht immer schimpfen und schreien, das bringt uns nirgendwohin.
    – Hast du mit einem Weisen zusammengesessen, als deine Tochter angefahren wurde, oder was? Hör sich mal einer die an. Wir sollten dankbar sein. Wenn uns etwas hierhergebracht hat, dann mein Wille und mein Ehrgeiz. Wäre ich dankbar gewesen für zwei Arme und zwei Beine und ein wenig Brot und Wasser, würde ich immer noch die fettigen Haare von verlausten Dorftrotteln scheren. Aber wir sind hier und arbeiten mit Wolle, mit feinster Schafwolle, weich wie Sahne. Du glaubst wohl, du hast es raus? Mir solltest du dankbar sein, sonst würden wir in einem Zimmer im Haus meiner Eltern wohnen, dann hätten wir kein Auto vor der Tür stehen und hätten nicht das Fundament eines Hauses gelegt. Die Kinder hätten nicht so viel Spielzeug oder gar ein eigenes Zimmer. Du denkst wohl, all der Reichtum hier kommt aus der Rippe Adams? Immer nur dem Herrn dankbar sein, ja? Was ist mit der Arbeit meiner Hände und dem Schweiß meines Angesichts? Du begreifst gar nichts. Frauenvolk, undankbares.
    Kurz darauf hört man den Anlasser des Autos.
     
    – Ceyda, mein Kleines, wach auf, psst, weck deine Schwester nicht.
    – Was?
    – Pst, leise, steh auf, zieh dir was an.
    – Was ist passiert?, fragt Ceyda, als sie vor dem Zimmer stehen. Über ihr Nachthemd hat sie eine Strickjacke gezogen. Draußen ist es dunkel.
    |106| – Wir müssen deinen Vater hereinholen, alleine schaffe ich das nicht.
    Gül sieht nicht den fragenden Blick ihrer Tochter, sie hat sich bereits umgedreht und geht die Treppen hinunter.
    – Was ist denn mit Papa?
    – Er ist im Auto eingeschlafen.
    – Warum?
    – Warum? Warum? Weil er Gift in sich hineingießt, als gäbe es kein Morgen.
    Erst als ihre Mutter die Autotür öffnet, versteht Ceyda, was mit Gift gemeint war.
    Ihr Vater sitzt am Steuer, eine Hand am Lenkrad, die andere neben der Handbremse, den Kopf unnatürlich abgeknickt, die Augen geschlossen, schnarchend.
    – Können wir ihn nicht wecken, fragt Ceyda, der ihr Vater auf einmal noch größer als sonst vorkommt.
    – Das habe ich schon versucht, sagt

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