Heimstrasse 52
sind, sitzt Gül in der Küche, hört das Klopfen an der Tür und denkt: Ihr wusstet genau, dass ihr die Heimstraße nicht verlassen dürft.
Sie hört die schnellen Schritte hin zur Vordertür, hört die Klingel und bewegt sich immer noch nicht.
Und wenn nun keiner mehr daheim ist. Euch werde ich lehren, euch so weit von zu Hause zu entfernen.
Dann wieder Schritte, und als Nächstes klopft es am Fenster der Küche. Gül sitzt so am Ofen, dass man sie von draußen kaum sehen kann. Und dann hört sie Ceydas Stimme:
– Mamaaa.
Sie springt auf, sieht Ceyda am Fenster, sieht, dass Ceren nicht bei ihr ist, und auf einmal ist die Angst in ihrem ganzen Körper, als hätte jemand ein Licht angeknipst. Oder vielmehr aus.
Dieser Moment, wo sich Mutter und Tochter durch die Scheibe ansehen und Gül in einem Augenblick mehr versteht, als in Worte oder Klänge passt. Dieser Moment, wo der Schrecken noch keinen Namen hat. Der Moment, in dem es überhaupt noch keine Namen gibt, an denen man sich festhalten könnte.
Die Angst ist nicht nur in Güls Körper, sie hat die ganze Welt erfasst, und Gül braucht Einzelheiten, kleine Brocken, die man benennen kann, Stücke, die man notfalls hinunterwürgen kann, denn jetzt ist die Angst so groß, dass sie Gül mit Leichtigkeit verschlucken könnte.
Dieser Moment.
Wie viel Angst passt in einen Moment, der so kurz ist?
So kurz sein muss, damit man ihn überlebt.
|102| – Welches Krankenhaus?
Ceyda sieht ihre Mutter an, schuldbewusst, schulterzuckend.
– Wie finden wir das nur raus? Wie weit ist sie geflogen? Sag noch mal.
– Ich habe es nicht ganz genau gesehen.
Ceyda fühlt sich verantwortlich, diesen Moment hätte sie nicht verpassen dürfen.
– Wie weit lag sie vom Auto entfernt?
– So … so weit, wie der Hühnerstall lang ist.
– Was mache ich jetzt nur? Was mache ich, mein Gott, was?
Güls Stimme zittert, sie ist kurz davor, sich das Gesicht zu zerkratzen, wie Ceren es damals am Fuß der Treppe getan hat.
– Zu Tante Tanja, schlägt Ceyda vorsichtig vor.
Tante Tanja ist eine ältere verwitwete Dame, die einzige Deutsche, die noch in der Heimstraße wohnt. Sie spricht einen Dialekt, den Gül nicht gut versteht und den sie erst Jahrzehnte später, nach dem Fall der Mauer, als einen ostdeutschen erkennen wird.
– Ja, zu Tante Tanja, sagt Gül, die hat ja auch ein Telefon. Wir müssen wissen, in welchem Krankenhaus sie liegt.
Auf dem Weg dorthin redet Gül unaufhörlich, und Ceyda ahnt, dass es schlimmer wäre, wenn ihre Mutter schweigen würde. Aber noch besser wäre es, wenn Gül sie ohrfeigen würde.
– Ihr wisst genau, dass ihr in der Straße bleiben sollt.
– Hier war alles so matschig.
– Ja, und? Bist du etwa in einem asphaltierten Land geboren worden? Bist du eine Dame geworden hier? Du bist die große Schwester, du hättest sie nicht aus den Augen lassen dürfen.
– Sie hatte sich versteckt, zwischen zwei Autos.
|103| Tante Tanja sitzt vorne im Taxi, Gül und Ceyda hinten. Gül sieht ihre Tochter an, die mit jeder Sekunde, in der geschwiegen wird, noch kleiner zu werden scheint.
– Was passiert ist, ist passiert, sagt Gül, Ceren lebt, und für die Vergangenheit gibt es keine Lösung, das hat dein Opa schon immer gesagt. Es hätte überall passieren können, auch bei uns in der Straße, man kann seinem Schicksal nicht entkommen.
Gül streicht über Ceydas Haare.
– Du musst alles tun, was du kannst, du musst deine ganze Kraft nutzen und alles so gut wie möglich machen, aber wenn die Dinge geschehen sind, dann muss man sie loslassen. Sie liegen nicht in unserer Hand.
Mevlüdes Worte fallen ihr ein: Wenn du so schlau bist, dann schreib doch ein Buch.
Es ist nicht der Glaube, der ihr fehlt, aber loszulassen ist so viel schwieriger, als es sich anhört. Was redet sie so klug daher, während sie sitzt, als wäre das unter ihr kein weiches Leder, sondern glühende Kohlen eines Schmiedefeuers. Was tut sie so weise, wenn es sich anfühlt, als würden vierzig Füchse durch ihr Inneres spazieren, ohne dass einer den anderen auch nur streifte. Was gibt sie für Ratschläge, wenn sie am liebsten weinen würde, weinen und klagen und hoffen, dass dieser Tag keine weiteren Überraschungen bereithält, dass sie Ceren gleich wieder mitnehmen können, dass da keine Brüche sind, keine Blutungen, Verletzungen, die vielleicht nie wieder heilen.
Sie ist gesund geboren, Herr, lass sie nicht behindert weiterleben.
Als die beiden hinten schweigen
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