Heimstrasse 52
gegangen ist, legt er Ceydas Milchzahn zurück in die Schachtel, zündet sich eine Zigarette an und raucht sie auf dem Bett liegend. Er sieht zu, wie sich der Rauch Richtung Decke kräuselt, und seufzt. Irgendwie kann er sich besser entspannen, wenn keine Frauen im Haus sind.
– Ein seltsamer Mann ist er, sagt Fuat, was macht er denn hier, wenn ihm Geld nichts bedeutet? Warum ist er hierhergekommen?
– Frag ihn doch selbst, sagt Gül.
Saniye und Yılmaz sind gerade gegangen, es ist ein trüber Samstagabend, und irgendwann hatte Gül das Gefühl bekommen, dass Fuat nur noch darauf wartete, bis der Besuch ging, damit er rauskonnte. Yılmaz raucht und trinkt, aber Glücksspiel lehnt er ab.
– Er möchte seine Frau nicht mit dem kleinen Kind alleine lassen, was für ein Pantoffelheld ist er denn? So redet doch kein Mann aus Anatolien.
– Sevgi ist gerade vier Wochen auf der Welt, sagt Gül.
Als Ceyda geboren wurde, war Fuat beim Militär. Zwei Tage nach der Geburt kam er, verbrachte seinen Urlaub bei der Apfelernte und seinen Freunden und war enttäuscht, dass er keinen Sohn hatte.
– Eben, sagt er, eben. Sie ist noch winzig, was soll man mit so einem Säugling anstellen? Es ist Samstagabend, Saniye und Sevgi hätten ja hierbleiben können, ich habe es ihm vorgeschlagen, |97| dass wir einen schönen Herrenabend machen. Ich verstehe wirklich nicht, was der Mann hier sucht. Geld interessiert ihn nicht, Vergnügen nicht, er ist wie eine Pflanze, oder? Luft und Wasser reichen ihm.
– Du hast doch gesehen, dass er trinkt, sagt Gül, während Fuat versucht, sich vor dem Spiegel die Haare so zu kämmen, dass die kahlen Stellen weniger auffallen.
– Sonst würde ich auch ernsthaft an seinem Verstand zweifeln. Da stimmt was nicht, wenn man ohne einen Traum hierherkommt, nur weil es einem daheim nicht mehr gefallen hat. Daheim ist es doch am schönsten, oder nicht? Aus jener Erde kommt unsere Lebensart und unsere Kraft, in jene Erde ist das Blut unserer Vorfahren geflossen. Hier gibt es ja nur Asphalt, sagt er, ungeachtet dessen, dass die Heimstraße noch viele Jahre nicht asphaltiert sein wird. Wie die anderen Anwohner betrachtet Fuat die Heimstraße nicht als ein vollwertiges Stück Deutschland.
– Mit dem Geld, das man hier verdient, kann man es sich daheim schöner machen. Da hat Saniye sich echt einen geangelt, die wird auf ewig hier festsitzen, sagt er und legt endlich den Kamm aus der Hand.
– Bis später.
Gül setzt sich in die Küche. Ihr gefällt dieser Yılmaz, er prahlt nicht, dass bald schon halb Malatya ihm gehören wird, er scheint Saniye ein guter Mann zu sein. So einen hat Saniye verdient, nachdem sie in so jungen Jahren Mann, Sohn und Vater verloren hat. Immer wenn Gül glaubt, ihr Los wäre schwer, denkt sie an Saniye. Ihr Mann lebt, er schlägt sie nicht, ihre Töchter sind bei ihr, ihr Vater ist nicht zum Mörder geworden, obwohl er sicherlich dazu fähig wäre. Sie musste nie ganz von vorne anfangen. Wie schön, dass Saniye nun so einen Mann gefunden hat. Er wird sicherlich aus den richtigen Gründen auf den Straßen Istanbuls Parolen gerufen haben.
Gül neidet Saniye diesen Mann nicht, aber sie wünscht sich |98| manchmal, sie könnte so sein wie ihre Freundin. Eine, die keine Angst hat, außer vor Wasser und Hunden, eine, die gut Deutsch kann, weil sie überall mitreden möchte, eine, die nur Gutes sagt, wenn sie über die Deutschen spricht, eine, die laut und lange lachen kann, auch wenn immer in einem Winkel ihres Auges die dunkle Vergangenheit sitzt. Eine, die obszöne Witze macht, wenn keine Männer in der Nähe sind, und die auch sonst wenig Hemmungen hat.
Aber Gott hat jedem seinen eigenen Weg auferlegt. Und Augen gegeben, damit er seinen Nachbarn betrachte und daraus lerne. Man braucht keine Angst zu haben, der Weg führt ins Licht.
– Ich schreibe Sie bis einschließlich Mittwoch krank, sagt der Arzt. Nehmen Sie diese Medikamente, ruhen Sie sich aus, und wenn Sie sich Mittwoch noch nicht gesund fühlen, kommen Sie wieder.
Fuat hustet und fragt:
– Mittwoch arbeiten?
– Nein, sagt der Arzt, erst am Donnerstag arbeiten.
– Okay, sagt Fuat, vielen Dank.
Er hat tatsächlich Grippe, aber nicht das ist der Grund, warum er zum Arzt gegangen ist. Zu Hause zündet er sich eine Zigarette an, die ihm nicht schmeckt, aber er raucht sie dennoch fast bis zu Ende. So krank bin ich nicht, denkt er, dass ich im Bett liegen müsste und nicht mal rauchen kann.
Schon länger
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